Die Feinde von meinem Feind...

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Zwischen den grauen Berggipfeln von Draona kreiste ein Schwarm Drachenvögel. Die schweren, dunklen Wolken die sich in den Gipfeln der hohen Berge verfingen ließen auf baldigen Schneefall schließen.
Besorgt legte Lou die Stirn in Falten. Schnee war das Letzte was sie jetzt gebrauchen konnten. Bis zum nächsten Vollmond war nicht mehr viel Zeit, nur noch fünf Tage.
Der Boden, wenige Zentimeter unter den Hufen der Windhengste, war schroff und uneben. Die kleinen Tannen die hier noch wuchsen mussten sich mit ihren knorrigen Wurzeln an den Felsen festkrallen, um überhaupt Halt im felsigen Boden zu finden. Die ersten Flocken trieben vom stahlgrauen Himmel hinab. Innerhalb kürzester Zeit war die Luft erfüllt vom Tanzen und Wirbeln der daunengroßen Flocken. Die Windhengste schnaubten leise und schüttelten den Kopf, als die Eiskristalle auf ihrem warmen Fell schmolzen. Der Schiefer unter ihren Hufen war schon bald mit einer tiefer werdenden, rein weißen, puderigen Schneeschicht bedeckt und die Äste der kleinen, knorrigen Tannen bogen sich unter der Last des Schnees.
Wie verzaubert blickte Lou sich um. Für einen Moment hatte sie beinahe vergessen warum sie überhaupt in diesen eisigen Bergen waren, in denen der Wind so erbarmungslos pfiff. Die beißende Kälte riss Lou aus ihren Träumereien. Fröstelnd schlang sie die Arme um den Oberkörper. Sollte sie je wieder nach Draona gehen, würde sie sich vorher einen Pelzmantel zulegen der auch wirklich warm hielt.
Vor ihnen ragte der Gipfel des Drachenberges in die Höhe. Bei dem dichten Schneetreiben war er mehr zu erahnen, als wirklich zu sehen. Wenn sie in diesem Tempo weiter ritten, würde es noch mehrere Stunden dauern bis sie oben waren.
Erschöpft schloss Lou die Augen. Der Schnee rieselte von ihren Wimpern auf ihre, vor Kälte geröteten, Wangen. So nah. Sie waren so nah an ihrem Ziel.

Der Schnee knirschte unter den Hufen der Windhengste. Auf der höchsten Bergspitze Draonas war die Luft so dünn, dass Lou das Gefühl hatte, jeden Moment zu ersticken. Die klirrende Kälte biss in Lous Haut und drang erbarmungslos durch ihre Kleidung. Aber sie hatten es geschafft! Vor Lou und Kean lag der Eingang zur Drachenhöhle.

Die beiden waren allein hier her gekommen. Fura und Liam hatten beschlossen, weiter unten am Berghang zurückzublieben da Fura wegen der zu dünnen Luft schon dort schwindelig geworden war. Auch wenn sie es nicht zugeben wollte, Lou war sich ziemlich sicher das Fura Assam hatte. Neben dem riesigen Eingang streckten sich zwei Steinsäulen himmelwärts. Der grauen Schiefer aus dem sie bestanden bröckelte an manchen Stellen bereits. Die Spitzen der Steinsäulen waren mit einer dicken Schneeschicht bedeckt.
Lou keuchte schwach. Wie weißer Rauch hing ihr warmer Atem vor ihren Lippen. Der Wind peitschte heulend um den Gipfel und wirbelte den Schnee auf. Der Schwindel wurde mit jeder Sekunde, die sie auf dem Berg verbrachten, stärker. Lous Fuchsinstinkt warnte sie davor noch länger hier zu bleiben. Neben ihr zitterte Kean genauso erbärmlich wie sie selbst. Mit glasigen, halbgeschlossenen Augen starrte er den Eingang der Höhle an. »Komm schon«, Lous Worte waren kaum ein Flüstern. Eher ein mit, letzter Kraft gehauchter, Gedanke, den Lou selbst kaum greifen konnte. Aus dem Inneren der Höhle drang ein dumpfes Geräusch, welches einen Teil des glitzernden Schnees von den Steinsäulen und dem Felsvorsprung über dem Höhleneingang rieseln ließ.
Kraftlos zitternd, sank Kean neben Lou zu Boden. Ein lautes Brüllen aus dem inneren der Höhle brauchte den Boden zum Beben. Vom Felsen über dem Höhleneingang fiel eine weitere Ladung Schnee zu Boden. Lou taumelte erschrocken rückwärts und fiel in den kalten Schnee. Von einer der Steinsäulen neben dem Eingang bröckelten einige graue Steinsplitter, die sich dunkel vom blenden weißen Schnee abhoben.
Erschöpft blieb Lou im Schnee liegen und schloss die Augen. Ihr Kopf war vollkommen leer. Das Heulen des Windes verstummte. Zurück blieb die eisige Kälte, die ihre scharfen Klauen in Lous Körper schlug. Neben ihr keuchte Kean ehrfürchtig auf. Mit flatternden Liedern hob Lou mühsam den Kopf.
Was sie sah raubte ihr den Atem: Vor dem Eingang der Höhle saß ein riesiger Drache. Seine schimmernden, nachtblauen Schuppen waren mit winzigen goldenden Sprenkeln bedeckt. Er hatte eine Art zotteliger Mähne aus goldenden Fell, aus welchem zwei prächtige, schneeweiß glänzende Hörner ragten. Auch am Hals und der Brust wuchs zwischen den Schuppen goldenes Fell. Um die Pranken hatte er seinen langen Schweif gelegt, an dessen Spitze ebenfalls ein Büschel von seinem, offenbar seidenweichem Fell saß.
Langsam beugte er sich zu Lou und Kean hinunter. In seinen großen silbernen Augen schimmerte, eine für Menschen unvorstellbare Weisheit. »Seid gegrüßt«, die Stimme des Drachen klang wie der Schlag einer Glocke nur leiser, sanfter und leichter. »Es tut mir wirklich leid, dass ihr in der Kälte warten musstet.« Der Atem des Drachen strich wie ein sanfter Sommerwind über Kean und Lou hinweg. »Kommt in meine Höhle. Die Seelenklopfer werden jeden Moment da sein«, sagte der Drache und mit einer unvergleichbaren Anmut stand er auf und ging in Richtung Höheneingang. Seine mächtigen Schwingen hatte er auf dem Rücken gefaltet und sein langer Schweif schwang hin und her und wirbelte Schnee auf.
Verwirrt stolperten Lou und Kean dem Drachen nach, ins Innere der Höhle.
Lou blickte sich staunend um. Wie es aussah befanden sie sich in einer Art Tunnel, der zur Haupthöhle führte. Die Luft hier war mild und schmeckte ein wenig wie Waldluft. Bis zu den Knöcheln versank Lou in dem weichen, dunkelgrünen Moos, das überall auf dem Boden der Höhle wuchs. An den Wänden hingen riesige, türkise, durchscheinende Kristalle die ein gedämpftes Licht in der Höhle verbreiteten. Die goldenen Flecken auf dem Schuppen des Drachen schimmerten im Halbdunklen. Von der Decke tropfte eiskaltes Schmelzwasser, welches irgendwie seinen Weg durch das Berggestein gefunden hatte.
Nach dem Lou und Kean dem Drachen eine gefühlte Ewigkeit gefolgt waren, wurde der dämmrige Tunnel immer breiter. Kaltes Winterlicht flutete in den Moos bewachsenden Tunnel. Staunend traten Kean und Lou in die kreisrunde Haupthöhle. Der Boden war auch hier vollständig mit einer Moosschicht bewachsen, welche noch dicker und weicher war, als die im Tunnel. Aus dem Boden ragten säulenartig die leuchtenden türkisenen Kristalle. Doch das eigentlich faszinierende an der Höhle waren weder die Kristalle, noch die dicke, weiche, smaragdgrüne Moosschicht die jeden Millimeter des Boden bedeckte, sondern die Decke der Höhle. Beeindruckt legte Lou den Kopf in den Nacken. Die Decke bestand vollständig aus einer, in der Sonne glitzernden, meterdicken Eisschicht. Das Eis war zum Großteil so klar, dass man den strahlendblauen Himmel sehen konnte.
Der Drache ließ sich in der Mitte der Höhle nieder und legte den Schweif um die Pranken. Seine silbernen Augen schimmerten fasziniert, als er sah wie begeistert Kean und Lou von seiner Höhle waren. Wiederwillig löste Lou den Blick von der funkelnden Eisdecke und blickte den Drachen erwartungsvoll an. »Danke das du uns in deine Höhle gelassen hast.«, in Lous Augen schimmerte eine tiefe, aufrichtige Dankbarkeit. »Mein Name ist Lou und das«, sagte sich und nickte in Keans Richtung welcher sich leicht vor dem Drachen verbeugte, »ist Kean«
Der Drache nickte höflich »Es freut mich eure Bekannt schafft zu machen«. Die nachtblauen Schuppen des Drachen glänzten und ihre ränder schimmerten in einem helleren blau Ton.
Ein wenig ungeduldig trat Lou von einem Fuß auf den anderen »Also«, begann sie erneut, mit vor Aufregung zitternder Stimme und fuhr sich durch das vom geschmolzenen Schnee klitschnasse Haar, »was genau willst du uns sagen?« Nachdenklich blickte Kean den Drachen an. »Wie ist eigentlich dein Name?« fragte er und seine blauen Augen funkelten den Drachen neugierig an.
»Ihr könnt mich Scharka nennen«, sagte der Drache mit sanfter Stimme und grub seine silbern glänzenden Krallen in das von Tauperlen besetzte Moos.
Ungeduldig wippte Lou auf den Fußballen auf und ab. Gerade als sie ihre Frage noch einmal stellen wollte, ertönte in dem Gang der zur Haupthöhle führte, das Schnauben eines Pferdes. Verdutzt drehte Lou sich um. Die vier Windhengste kamen in die Höhle getrabt. Auf den Rücken von zweien von ihnen, saßen Liam und Fura und schauten sich, mit vor ungläubigen Staunen weit aufgerissenen Augen, um.

»Da die Seelenklopfer jetzt auch da sind«, verkündete der Drache mit samtiger, tiefer Stimme »werde ich euch jetzt erklären warum ihr hier her gekommen seid.« Gelassen hob er die Pranke und leckte sich die langen silbernen Krallen ab. Staunend traten Fura und Liam neben Lou. Ungläubig blickten sie den Drachen, der majestätisch vor ihn saß, an.
»Ich habe euch gebeten zu kommen«, fuhr Scharka fort und neigte den Kopf, um Lou und ihre Begleiter besser sehen zu können »da wir, die vier letzten Drachen, beschlossen haben König Ravitan seine Gabe zu rauben«.
Auf die Worte des Drachen hin folgte ungläubiges Schweigen, welches nur von dem leisen Schnauben der Windhengste unterbrochen wurde. »Ähm«, stotterte Lou verwirrt und blickte erst Kean und dann die Zwillinge an. »Warum? Ich meine ich finde das gut, aber...« Einen Moment blickte der Drache Lou nur ausdruckslos aus seine Silberaugen an. Als er antwortete schwang in seiner Stimme leichte Belustigung mit: »Wir wollen eurem König seine Gabe aus dem gleichen Grund stehlen«, aus dem wir allen Menschen die durch den eisernen Blick zu fiel Macht erlangen die Gabe stehlen«. Restlos verwirrt blickte Lou zu Kean. Allen Menschen die durch den eisernen Blick zu fiel Macht erlangt haben?
»Ach, das kommt nicht so oft vor« antwortete der Drache leichthin auf Lous unausgesprochene Frage. »Im Schnitt nur ungefähr alle dreihundert Jahre«. Langsam bekam Lou von dem Gespräch mit dem Drachen Kopfschmerzen. Scharka schien einfach immer auf unausgesprochene Fragen zu antworten und setzte sehr viel Hintergrundwissen voraus. »Und wenn Leute mit einer andere Gabe zu mächtig werden? Wird diese ihnen dann auch von euch genommen?«, fragte Lou und legte neugierig den Kopf schief. Scharkas Augen blitzten. »Nicht wirklich, nein«, sagte er leise und legte den Kopf auch schräg. »Es ist uns egal, wie mächtig ein bestimmter Mensch ist«. Der Drach hielt nachdenklich Inne und sein langer Schweif zuckte. »Ich könnte das jetzt schön reden, aber die Wahrheit ist, dass wir den eisernen Blick nicht ausstehen können«.
Die Wolken am Himmel außerhalb der Höhle teilten sich und die Sonne schien direkt auf die Eisdecke der Höhle. Die Sonnenstrahlen wurden vom Eis gebrochen und tanzten in allen Farben des Regenbogens, über den von Moos bedeckten Boden. »Und was habt ihr gegen König Ravitans Gabe, den eisernen Blick?«, fragte Fura zaghaft und kaute nervös auf einer Strähne ihres roten Haars herum.
Der Drache seufzte und sein Atem fegte über Lou, Kean, Fura und Liam hinweg, wie eine Windböe. Dieses Gespräch schien auch ihn anzustrengen. »Der eiserne Blick wurde, genau wie das Schlangenflüstern, von den Basilisken erschaffen«. Mit geschlossenen Augen legte Scharka den Kopf in den Nacken. »Drachen und Basilisken sind seit Anbeginn der Zeit verfeindet. Deshalb gefällt es uns nicht, dass jemand, der ihre Gabe besitzt, so mächtig ist«.


Lou schwirrte der Kopf. Schlussendlich war es ihr egal, warum die Drachen ihnen halfen. Hauptsache sie taten es. »Und wie«, sagte Lou und räusperte sich »willst du uns helfen?«.
»Ist das vielleicht lästig immer alles erklären zu müssen«, grummelte Scharka vor sich hin. Einen Moment wunderte Lou sich über diesen unfreundlichen Tonfall verwundert, doch dann wurde ihr klar das Scharka es nicht böse gemeint hatte. Er war es wahrscheinlich einfach nicht gewöhnt dinge erklären zu müssen da er ja sonst nur mit Drachen redete die ja eh schon alles wussten. Beiläufig deutete der Drache mit der Schweifspitze auf die Zwillinge und sagte mit leiser ruhiger, Stimme, »Ich werde euch beiden jeweils eine meiner Schuppen geben. Dadurch wird eure Gabe um ein zehnfaches verstärkt«.
Überrascht schauten Liam und Fura sich an.
Aber der Drache war noch nicht fertig: »Zusätzlich werde ich euch eine meiner Tränen geben«, Die mächtigen Schwingen von Scharka zuckten. »Hört gut zu: Ihr müsst dafür sorgen, dass König Ravitan die Träne trinkt. Denn wenn er das tut, verliert er seine Gabe für immer.«

Zufrieden blickte der Drache von einem sprachlosen Gesicht ins andere. Dann neigte er den Kopf und zupfte vorsichtig zwei Schuppen von seiner Schulter und ließ sie vorsichtig in die Hände der Zwillinge fallen. »Passt gut darauf auf«, die Augen des Drachens schimmerten gelassen. Fura und Liam nickten beide eilig.
Für einen Moment schloss der große Drache seine Augen und eine große, glänzende Träne lief über Scharkas geschuppte Wange. Langsam hob der Drache eine seiner Pranken und fing die Träne mit einer seiner Krallen auf. Er schnaubte und eine Wolke aus Eiskristallen hüllte seine Pranke ein. Als die Wolke sich auflöste, schwebte ein filigranes Glasgefäß in der Luft zwischen seinen Krallen.
Wie in Trance nahm Lou die Drachenträne entgegen und drehte das Glasgefäß zwischen den Fingern. Dann blickte sie Scharka verwundert an. »Ich dachte selbst Drachen können nicht einfach Dinge erschaffen«, nachdenklich legte sie die Stirn in Falten und musterte den Drachen eindringlich.
»Menschen denken viel und wissen wenig«, schnaubte Scharka verächtlich. »Findet ihr nicht«, sagte er in einem milderen Ton, »dass ihr jetzt aufbrechen solltet um so schnell wie möglich wieder in Jarana zu sein?«
Wie betäubt nickte Lou. »Ja wir sollten wirklich los. Tausend Dank, Scharka! Es war für uns eine große Ehre dich zu treffen«, murmelte sie und verbeugte sich tief vor dem Drachen.
»Gern geschehen«, erwiderte der Drache freundlich und schloss die silbernen Augen. 

RabenkönigWo Geschichten leben. Entdecke jetzt