Träume der Vergangenheit

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Ein Schrei gellte durch die nach Rauch und Feuer stinkende Luft. Die Nacht war erfüllt vom Klirren der aufeinander schlagenden Schwerter. Lou stand da wie gelähmt. »Nein, nein, nein! Das...das ist unmöglich!«, Ihre Worte schallten viel zu laut durch die Dunkelheit. Panik und Angst raubten Lou den Atem. Gehetzt blickte sie sich um. Sie stand auf dem verbrannten Waldboden. Die Rinde der Bäume war verkohlt und schwarz. Der Lärm vom Kampf wehte aus einiger Entfernung zu ihr hinüber. Lou atmete tief durch und blickte sich um. Plötzlich entdeckte sie zwei kleine, zusammen gekauerte Gestalten. Langsam machte Lou ein paar Schritte auf sie zu. Vor ihr saßen zwei Mädchen. Die eine ein paar Jahre älter als die andere. Die Ältere hatte strohblondes, langes Haar, war recht groß und hatte unschuldige, blaue Augen. Die Jüngere war das komplette Gegenteil. Sie hatte schwarze, kinnlange Locken, braune Augen und war ziemlich klein. Hätte Lou nicht gewusst, dass es sich bei den beiden um Schwestern handelte, sie wäre nicht darauf gekommen.

Die beiden saßen dicht aneinander gedrängt da und lauschten dem immer leiser werdenden Kampflärm ängstlich. Lou betrachtete sie wie erstarrt. Die beiden kleinen Mädchen waren ihre große Schwester und... sie. Lou schwirrte der Kopf. Ein Ast knackte. Sie wirbelte auf der eigenen Achse herum und erblickte zwei schwer verwundete Männer, die sich durch das Gebüsch schleppten. Beide trieften nur so vor Blut. Der eine war groß, stämmig und hatte hellbraune Haare, während der andere eher klein war und verstrubbelte schwarze Locken hatte. Lou blickte die beiden entsetzt an. Sie bekam keine Luft mehr. Ihr Blick fiel auf den kleineren der beiden Männer, hinter dem jetzt ein riesenhafter Schwarzbär aus dem Gebüsch getreten war. »Papa...«, flüsterte Lou erschrocken. Plötzlich begann sich alles in aschgrauen Rauch aufzulösen und Lou stürzte ins Leere. Sie schloss die Augen und kämpfte gegen die Übelkeit an, die sich in ihr ausgebreitet hatte.

Als Lou die Augen wieder öffnete lag sie auf einer Blumen- wiese. Ein faulig, süßer Geruch stieg von den Blumen auf. Langsam richtete Lou sich auf und blickte sich um. Die Blumen sahen alle genau gleich und unwirklich aus. Sie waren alle schneeweiß und sehr filigran. Sie erinnerten, von der Form der Blätter und Blütenköpfe her, an überdimensionale Kirschblüten. Alle Blüten waren genau gleich, als wären sie nur die Spiegelungen einer Blume, die immer und immer wieder auf dieser endlosen Wiese verteilt worden waren.

Es gab nur eine einzige Blume die aus dem Rahmen fiel und Lou stutzig werden ließ. Sie wuchs keine zehn Meter von Lou entfernt und vom Großteil ihres Aussehens her, war sie von den anderen nicht zu unterscheiden. Aber doch war sie ganz anders. Denn ihre Blütenblätter waren nicht, wie bei allen anderen schneeweiß, sondern von einem kräftigen, leuchtenden blutrot. Ganz langsam ging Lou auf die Blume zu. Irgendetwas sagte ihr, dass diese Blume wichtig war. Mit jedem Schritt den sie auf die Blume zu kam, wurde dieses Gefühl stärker. Vorsichtig kniete Lou sich neben die rote Blume und strich sanft über die Blütenblätter. »Es ist alles meine Schuld!«, ein ersticktes Schluchzen ließ Lou herum fahren. Mitten in dem Meer aus weißen Blumen stand ihr vergangenes, acht Jahre altes Ich, starrte sie durch den Tränenschleier wütend an und sagte vorwurfsvoll: »Warum musste er sterben?« Die jüngere Lou begann hemmungslos zu schluchzen, als sie flüsterte: »Er ist nur gestorben weil ich ihn nicht beschützen konnte! Papa...« Der kleinen Lou versagte die Stimme und sie sank weinend und zitternd zu Boden.

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