Das Vermächtnis der Drachen

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Fura hockte neben Liam auf einer schäbigen Holzbank, im trüben Dämmerlicht, welches durch die schmutzigen Fenster fiel. Ein Tag war vergangen, seit der König seine Ansprache gehalten hatte. Es war schon später Nachmittag und die Zwillinge saßen jetzt schon knapp eine Stunde im Wirtshaus »Zum trunkenen Schwan« Die trockene Luft im Wirtshaus roch nach Ruß, Brandwein und Schweiß. Das Knacken des Kaminfeuers, in dessen Nähe die beiden saßen, war trotz der lauten Gespräche gut zu hören.

Eine alte Frau saß zusammen gesunken auf einem alten klapprigen Holzstuhl, zu ihren Füßen eine Gruppe kleiner, schmutziger Kinder und erzählte den Kleinen eine Geschichte. Fura schielte unauffällig zu der Alten hinüber. Sie hatte das dünne, weiße Haar zu einem Dutt hochgesteckt. Über den schmalen Schultern lag ein bunt gemustertes Schultertuch.

Die alte Frau hatte die Augen geschlossen und erzählte mit leiser Stimme, während die Kinder zu ihren Füßen andächtig lauschten. Fura spitzte die Ohren um auch höheren zu können, was die alte Frau erzählte.

»Die Vogelstimme wurde als allererstes erschaffen. Der Goldfink ist das großzügigste aller übernatürlichen Wesen und hatte Mitleid mit den Menschen, die nie verstanden, was die Tiere versuchten ihnen mitzuteilen. Also gab er den Menschen die Fähigkeit mit den Tieren zu sprechen.«

Fura kannte diese Geschichte. Es war die Geschichte von der Schöpfung der zwanzig Gaben. Die alte Frau öffnete kurz die Augen und blickte zu den um sie versammelten Kindern.

»Nur wenige Tage nach der Schöpfung der ersten Gabe, tat die Sternenkatze, die die Fähigkeit hat in die Träume anderer zu blicken und im Traum Visionen zu erhalten, es dem Goldfink nach und übertrug auch ihre Gabe, das Traumwandern, auf die Menschen.

Das sanfte Lichtreh war beeindruckt von der Großzügigkeit des Goldfinken und der Sternenkatze und erschuf ebenfalls eine Gabe. Lichtrehe können sehr schnell rennen und, wenn sie wollen, einen Lichtschein um sich herum erzeugen. Diese Fähigkeiten gaben sie gerne an die Menschen weiter

Die Schleiereulen wiederum gelten aus äußerst geheimnisvoll und wechselhaft. Diese Eulen sind in der Lage jede beliebige Gestalt anzunehmen. Warum sie die Gabe des Gestaltwandels den Menschen vermachten, können wir nicht nachvollziehen. Schleiereulen gelten nicht als besonders großzügig. Vermutlich schufen sie diese Gabe einfach aus einer Laune heraus.«

Mit geschlossenen Augen lauschte Fura. Die Stimmer der alten Frau hatte etwas einschläferndes, trotz ihres rauen, kratzigen Tons. Liam stupste Fura an. »Hey hörst du mir überhaupt zu?«, fragte er leicht verärgert. »Tut mir leid Liam. Was hast du gesagt?« fragte Fura schuldbewusst. Liam runzelte die Stirn und blickte seine Schwester besorgt an. »Ich fange an mir wirklich Sorgen um dich zu machen Fura. Du bist doch sonst auch nicht so unaufmerksam.« Fura rollte genervt mit den Augen. Das war so typisch für ihren Bruder. Sofort machte er sich wegen einer Kleinigkeit Sorgen. Liam räusperte sich und blickte schnell zu einer düsteren Gestalt in der anderen Ecke der Schenke. »Ich habe das Gefühl, dass wir beobachtet werden. Irgendetwas stimmt hier nicht« flüsterte er. Fura starrte neugierig in die Richtung der düsteren Gestalt. »Meinst du der da beobachtet uns?«, flüsterte sie ihrem Bruder ins Ohr und zeigte betont unauffällig in die Ecke, in der der Düsterling saß. »Auffälliger ging es nicht, was Fura?«, fragte Liam verärgert. »Jetzt weiß er, dass wir ihn bemerkt haben.« Fura grinste und sagte: »Ach komm, woher willst du wissen ob er uns beobachtet, oder nicht. Da könntest du ja auch der alten Frau da vorwerfen, uns zu beobachten.« Der sorglose, optimistische Tonfall seiner Schwester brachte den sonst so ruhigen Liam gradezu in Rage. »Willst du damit sagen, ich leide unter Verfolgungswahn?«, zischte er seine Schwester giftig an. Fura blicke ihren Bruder entsetz an. Er musste sich wirklich Sorgen machen, dass er dermaßen überreagierte. »Tut mir leid...«, murmelte Fura kleinlaut: »Ich wollte nicht...« »Ist schon gut.« Liams Stimme war ungewöhnlich eisig als er ihr das Wort abschnitt. Fura seufzte, so war ihr Bruder. Von einen Extrem ins Andere. Sie entschied sich dafür ihn in Ruhe zu lassen, bis er sich wieder beruhigt hatte und wand sich kopfschüttelnd wieder der Erzählung der alten Frau zu. Zu ihrer Enttäuschung musste sie aber feststellen, dass die Geschichte schon fast zu Ende war. Die Geschichtenerzählerin war schon bei der letzten und zwanzigsten Gabe angekommen.

»Als letztes schuf der allwissende Drache, im Verlangen alle anderen zu übertrumpfen, die mächtigste der Gaben, dass Seelenklopfen. Diese ist allerdings eine Gabe, die den Menschen niemals hätte übergeben werden dürfen. Seelenklopfer können durch einen bloßen Gedanken ihr Gegenüber töten. Aus diesem Grund steht auf Seelenklopfen die Todesstrafe.« »Aber, warum werden die Seelenklopfer denn getötet? Kann man nichts anderes tun?« wurde die Erzählerin von einem kleinen Jungen unterbrochen. Die großen wasserblauen Augen des Kindes waren entsetzt geweitet. »Natürlich werden nicht alle Seelenklopfer getötet... in Draona, der Heimat der Drachen zum Beispiel, werden Seelenkopfer bloß zu den Drachen gebracht, damit ihnen die Gabe wieder abgenommen wird«, sagte die alte Frau in beruhigendem Ton zu dem kleinen Jungen. Sie fuhr mit ihrer leisen, kratzigen Stimme fort: »Diese Menschen behalten sogar eine Gabe, denn das Seelenklopfen steht immer in Verbindung mit einer anderen Gabe, die anders als das Seelenklopfen, welches als äußerst selten gilt und zudem nur bei Zwillingen vorkommt, weitverbreitet ist.

Aber seine königliche Hoheit, König Ravitan, hat kürzlich veranlasst, dass überall in seinem Reich nach Seelenklopfern gesucht wird. Man sagt, dass derjenige der ihm einen Seelenklopfer bringt eine hohe Belohnung erhält...«

Fura wusste, dass in Jarana auf Seelenklopfen die Todesstrafe stand. In Draona, und auch überall anders, mochten die Menschen das anders handhaben, aber hier war es so. Aber das jetzt auch noch nach Seelenklopfern gesucht wurde und König Ravitan dem jenigen eine Belohnung gab, der ihm einen Seelenklopfer auslieferte, war ihr neu.

Das Ende der Geschichte, in dem die alte Frau erzählte was für geizige Wesen die Greifen waren, die als einziges, übermächtiges Wesen keine Gabe schufen, bekam Fura gar nicht mehr mit. Jetzt machte sie sich auch Sorgen. Mit einem schnellen Blick zur Seite vergewisserte sie sich, dass Liam immer noch schmollte. »Komm schon«, flüsterte Fura ihm zu. »du kannst später noch beleidigt sein. Wir haben ein echtes Problem.« Fura räusperte sich recht verlegen, bevor sie fort fuhr: »Ich glaube du könntest vorhin Recht gehabt haben.« Liam's Kopf schnellte herum. »Wie meinst du das? Glaubst du jetzt auch, dass wir beobachtet werden?« Sein Flüstern war kaum noch zu verstehen und er blickte sich aufmerksam um

.»Hast du denn nicht gehört was die alte Frau da gesagt hat?«, wisperte Fura ängstlich und blickte kurz in die Richtung der Erzählerin, aber der Stuhl auf dem sie gesessen hatte stand nun verlassen da. »Wir sind in Gefahr Liam... sie suchen uns! Sie suchen nach Seelenklopfer! Der König hat eine Belohnung auf uns ausgesetzt.«, sagte sie mit ängstlicher Stimme. Liam presste die Lippen aufeinander und schwieg beharrlich. In Furas Augen schimmerte eine Mischung aus Angst und Verzweiflung. »Verdammt Fura!«, durchbrach Liam schließlich leise das Schweigen. »Das war so ungefähr das Dümmste, was du sagen konntest!« Es war ihm deutlich an zu merken, dass er große Angst hatte. »Rede NIE wieder in der Öffentlichkeit über unsere Gabe« flüsterte er kaum hörbar in Furas Ohr. Betont ruhig blickte er sich im Gasthaus um »Lass uns gehen. Hoffentlich hat keiner was gehört«, sagte er und stand auf.

Zittrig und blass nickte Fura. Sie musste sich dringend wieder beruhigen. Die beiden Geschwister gingen mit zügigem Schritten auf die Tür zu.

Sobald sie das laute, hecktische Treiben der Schenke hinter sich gelassen hatten, atmete Liam hörbar auf. Die Tür fiel hinter den beiden krachend ins Schloss und über ihren Köpfen schwankte knarzend das Schild des »Trunkenen Schwan«.

Die alte Geschichtenerzählerin, die sich im Schatten an ihnen vorbei duckte und sich eilend in Richtung Burg auf machte, bemerkten sie nicht.

Die Glocken der Burgturmuhr läuteten und die Luft erfüllte sich mit den vollen, dunklen Tönen.   

RabenkönigWo Geschichten leben. Entdecke jetzt