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Ich starrte an die Decke. Es müsste bereits nach Mitternacht sein. Ich habe weder eine Uhr noch mein Handy hier. Alec hat die Tür immer noch verschlossen. Er ist bereits vor Stunden gegangen. Wahrscheinlich um sich wieder volllaufen zu lassen. Am Anfang habe ich mich für diesen Gedanken schuldig gefühlt, aber jetzt.. jetzt wünschte ich mir manchmal einfach, dass ihm irgendwas passiert und er nie wieder nachhause kommt. So würden sich alle meine Probleme in Luft auflösen. Für diesen Gedanken werde ich in die Hölle kommen. Meine Seele wird dafür zahlen müssen. Aber ich kann für diesen Gedanken nichts, manchmal, ja manchmal kann man nicht mehr anders. Manchmal darf man an sich denken. Ich denke viel zu selten an mich. Ich stand auf und ging zum Spiegel. Ganz langsam schaut ich mir meinen zierlichen und schmalen Körper an. Ich zog das Pflaster langsam von meiner Stirn. Mit meinem Zeigefinger glitt ich sanft über die Wunde. Sie tat nicht mehr so weh wie gestern, doch ich konnte mir schon denken, das eine Narbe bestehen bleibt. Ich zog mir mein Shirt und meine Hose Haus um mich ganz im Spiegel betrachten zu können.  Als ich wieder hoch in den Spiegel blickte erschrak ich. Das bin doch nicht ich? In dem Spiegel sah ich einen dünnen, blassen und vernarbten Körper. An meinem Arm konnte man endliche Blutergüsse erkennen. An meinen Unterbauch einen riesigen blauen Fleck. Der Kommt von letzter Woche. Das weiß ich noch genau. Er hatte versucht mit mir zu schlafen. Ich hab mich geweigert und gewehrt. Da wurde er so wütend, dass er mich vom Bett geschubste und ein paar mal in meinen Bauch trat. Mein Magen hat sich gefühlt einmal um den Kreis gedreht, sodass ich mich direkt übergeben habe, als er das Zimmer verlassen hatte.
Ich bin völlig unterernährt. Das liegt wohl daran, dass Alec mir nie etwas übrig lässt. Vielleicht bekomme noch seine Reste, aber auch nur wenn er gut drauf ist. Beziehungsweise einen guten Tag hat.
Meine braunen Haare die mir bis kurz über die Brust gehen wurden immer dünner. Ich hatte mal volles und dichtes Haar mit einem kräftigen und schönen Braunton. Meine blonden Strähnen sind schon leider fast rausgewachsen.
Meine Beine sind total dünn. Nicht so dünn wie bei einer Magersucht, aber nicht mehr so wie früher.
Das bin nicht mehr ich in diesem Spiegel. Das ist ein Mädchen was ich nicht kennen will. Ein Mädchen was den Anschein macht den Kampf zu verlieren und aufzugeben.
Früher war ich mal so stark. Alec hat mich Stück für Stück immer schwächer gemacht. Jeder hatte es gemerkt. Meine Freunde. Meine Eltern. Doch ich hab ihnen nicht geglaubt. Ich dachte jeder verändert sich in einer Beziehung. Meinem Anschein war das ganz normal. Aber das es so endet. Ich war dumm und naiv. Jetzt sitze ich seit 4 Jahren in dieser Hölle fest. Ich wünschte ich wäre damals nie mit Alyssa zu dieser Party von ihrem älteren Bruder gegangen. Ein einziger Abend hätte mein komplettes jetziges Leben ändern können. Eine einzige Antwort. Nein. Wieso habe ich nicht auf meine Eltern gehört. Wieso habe ich mich raus geschlichen. Wieso habe ich mich auf dieses Sofa gesetzt und wieso setzte sich ausgerechnet Alec neben mich. Ich meine er sah echt mega gut aus. Er hätte jeden auf dieser Party haben können, aber er hat sich neben mich gesetzt und mein Schicksal stellvertretend ohne meine Einwilligung unterschrieben.
Wieso? Ich war nichtmal wirklich hübsch. Mit fünfzehn Jahren hatte er sich sogar Strafbar gemacht. Er war zu der Zeit achtzehn. Doch das schlimmste was ich jemals in meinem Leben gemacht habe, war bei ihm und seinen Kumpels in dieser einen Nacht mit zu gehen. Danach gab es kein Entkommen mehr für mich. Ich war abhängig von ihm und das wusste er auch. Das lässt er mich jeden Tag aufs Neue spüren.
Ein Träne die mir über mein Gesicht rollte, holte mich in die Realität zurück. Was ist nur aus mir geworden.
Ich zog mir mein T-Shirt wieder an und legt mich in das Bett. Wieso hab ich das verdient. Ich war immer höflich und freundlich. Doch das reicht für diese grausame Welt nicht. Nein. Das Leben ist unfair gegenüber mir. Mein Leben hasst mich. Ich möchte dieses Leben nicht mehr. Dieses Leben raubt mir die Chance auf Freude und Spaß. Doch es zu beenden will ich nicht. Kann ich nicht. Ich gebe ihm nicht was er will. Ich erlasse ihn nicht meinem tot.
Je länger ich darüber nachdachte, desto müder wurde ich. Ich hoffe er kommt ein wenig zu Vernunft und öffnet die Tür heute Nacht wenn er wieder kommt. Ich habe schon etliche Fehltag dieses Schuljahr. Viel mehr kann und darf ich mir nicht erlauben, meinte mein Klassenlehrer. Sonst würde ich das Jahr nicht bestehen und sitzen bleiben.
Irgendwann schlief ich ein.

„Genevieve komm her!" hörte ich eine bekannte Stimmte rufen. Ich drehte mich um und sah eine kleine blonde Frau auf mich zu laufen. Mama.
Ich lief auf sie zu und umarmte sie. Was macht sie an meinem Strand? Woher kennt sie diesen Ort.
„Mama was machst du hier?" fragte ich und fing vor Freude an zu weinen.
„Dir helfen mein Schatz. Du musst von diesem Strand verschwinden. Der Schein trügt." versuchte sie mir zu erklären. Ach Mama wenn es doch nur so einfach wäre.
„Ich habe es versucht. Es funktioniert nicht." erklärte ich ihr.
„Unsinn, es gibt immer eine Lösung." hörte ich nun ein andere Stimme reden. Ich drehte mich wieder um. Papa. Er war schon immer ziemlich streng und direkt. Er nimmt kein Blatt vor dem Mund.
„Wie oft habe ich es schon versucht, je öfter ich versuche weg zu kommen, desto weiter bin ich vom Ausgang entfernt." sprach ich leise.
„Du hast nur Angst. Mehr nicht." murrte mein Vater.
„Das ist nicht wahr. Ich will doch so gerne hier weg. Der Regen verbrennt meine Haut schaut!" sagte ich flehend und zeigte ihnen meine Arme. "Die Raben nagen an mir. Hier!" Fügte ich weinerlich dazu und zog mein weißes Sommerkleid ein wenig hoch um ihnen die fehlende Haut an meinen Oberschenkeln zu zeigen.
„Wenn du so weiter machst, bleibt bald nichts mehr von dir übrig." sprach mein Vater. Ein kräftiger Wind kam. Seine dunkel braunen Haare flogen durch sein Gesicht.
„Mama glaub mir ich versuche es." sagte ich un fing an zu weinen.
„Du zögerst Genevieve. Du kannst so viel mehr. Du enttäuscht uns." sagte sie und ging ein Stück zurück. Plötzlich wurde der Himmel wieder grau.
„Du bist dabei aufzugeben. So kennen wir dich nicht. Wo ist meine Kämpferin? Wo ist meine Tochter?" rief mein Vater.
„Ich bin doch hier. Helft mir doch bitte!" schrie ich. Ein kräftiger Windstoß zog über den Strand.
Ich lief zu meiner Mutter und nahm ihre Hände in meine.
„Mama bitte. Helfe mir. Du hast mir doch immer geholfen." flehte ich, während mir unzählige Tränen über die Wangen laufen.
„Wer bist du?" fragte sie plötzlich und schubste mich zurück.
„Mama? Ich bin es doch Genevieve." antwortete ich ihr und schaute sie geschockt an.
„Nein, meine Genevieve ist tot. Mein lebensfrohes, wunderschönes Mädchen gibt es nicht mehr! Wie kannst du es wagen sich für sie auszugeben!" schrie sie.
„Richard!" fügte sie noch hinzu.
Mein Vater kam angelaufen und fragte was los sei.
„Dieses Mädchen behauptet sie wäre Genevieve!" schrie sie und fing an zu weinen.
„Findest du das lustig?" fragte er wütend.
„Eine alte Frau so respektlos mit dem tot ihrer Tochter zu konfrontieren!" fügte er hinzu und wurde immer lauter.
„Aber Papa ich bin es doch. Ich bin nicht tot!" rief ich.
„Verschwinde! Hau ab! Keinen Funken Anstand hast du, keinen Funken Respekt!" brüllte er und dreht sich gemeinsam mit meiner Mutter um. Sie entfernten sich langsam von mir. Ich versuchte sie einzuholen, doch trotz ihres langsamen Tempo schaffte ich es nicht sie einzuholen. Ich blieb auf einer Stelle. Es ist wie beim Ausgang. Ich komme nicht weiter
„MAMA! PAPA!" schrie ich mir die Seele aus dem Leib. Doch sie drehten sich nicht um. Irgendwann waren sie ganz hinter dem Horizont verschwunden und ich war alleine. Ich schaut aufs Meer. Die Wellen hörten sich bedrohlich an. Schnell drehte ich meinen Kopf Richtung Ausgang. Werde ich ihn je erreichen?
Auf einmal hörte ich wie de Wellen immer lauter wurden. Meine Füße fühlten sich auf einmal ganz kalt an. Ich schaute nach unten und sah, dass meine Füße im Wasser stehen. Ich drehte mich wieder um. Ich war samt meinen Klamotten im Meer. Der Ausgang war jetzt noch weiter entfernt. Das Meer reist mich mit. Die Strömung zieht mich nach unten. Die Wellen werden immer aggressiver. Ich versuchte mich über Wasser zu halten. Salzwasser machte sich in meiner Lunge breit. Plötzlich kam eine riesige Welle. Ich versuchte zu schreien, doch es war zu spät. Die Welle brach und riss mich mit sich.

You were good to meWo Geschichten leben. Entdecke jetzt