Kapitel 2: Der Dachboden

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Kapitel 2
Der Dachboden

Duschen, Scherben verdrängen und noch mal ein Nickerchen vollziehen, so verbrachte Lou die nächsten zwei Stunden, bis sie wieder einmal von einem Geräusch geweckt wurde. Dieses Mal war es jedoch kein poltern, sondern ein Klingeln. Ihr Handy. „Ja?",sprach sie verschlafen hinein. „Ihr habt nicht zufällig noch ein Bügeleisen, das ihr verleihen könnt?", fragte ihre Gesprächspartnerin. „Vielleicht auf dem Dachboden.", antwortete Lou und gähnte ausgiebig. „Ok. Bis in Zehn Minuten." , der auflege- Ton erschien, ehe Lou realisieren konnte, wer sie so eben angerufen hatte. War es Kaja? Vermutlich, wer sonst sollte sie anrufen? Aber wieso brauchte sie ein Bügeleisen? Kaja war Lou's beste Freundin, die beiden kannten sich schon seit der Grundschule. Im Vergleich zu ihr selbst, war Kaja sehr schlank, sie liebte es Sport zu machen und war ein ziemlicher Outdoor Fan. Klettern, Reisen, Handball, das war Kaja's Welt. Und eine abgeschlossene Ausbildung als Schreinerin hatte sie auch schon. Da konnte Lou, die selbst am liebsten nur auf ihr Sofa oder ins Bett gekuschelt war, mit einem guten Buch in der Hand, nicht mithalten. Ja, das war Lou' ihre Welt. Lesen. Bücher, Comics, Manga, sogar die Tageszeitung. Hauptsache es gab Wörter, und eine Welt in die man entfliehen konnte. Sogar wenn es die der Sterbeanzeigen war. An den Traueranzeigen und den Namen der Verstorbenen, malte sich immer Bilder aus, auch wenn es etwas Makaber war.
Wie die Leute wohl gelebt hatten, welchen Beruf hatten sie? Haben sie ihre Träume erreicht? Spannende Abenteuer erleben, neue Leute kennen lernen, Weltgeschichte schreiben. So etwas erschien in Büchern immer alles viel einfacher als im wahren Leben. Dort war sie nur Lou. Tollpatschig, dicklich, alleine, und dennoch mit sich selbst im reinen. Aber in ihren Büchern konnte sie jeder sein. „Jeder und doch niemand.", dachte sie. Aber sie würde die Bücherwelt jederzeit ihrer vorziehen. Dort gab es Spannung, und in ihrem Lieblingsbuch sogar denn Mann ihrer Träume. Gut gebaut, braune verwuschelte Haare und einen drang nach Abenteuern. Augenscheinlich perfekt. In Büchern gab es perfekt, im wahren Leben nicht, auch wenn man es noch so sehr versuchte. Perfekt war ein Wort, das ein Computer mit Hilfe einer Formel berechnet und ausgespuckt hat. Ein Drucker ist an einen Computer angeschlossen. Somit waren Bücher es. Perfekt. Zumindest für Lou. Und grade jetzt, nach einem heißen Sommertag, mitten im Juli, gab es doch nichts schöneres als sich Abends ans offene Fenster zu sitzen und die kühle Abendbriese zusammen mit etwas Wassermelone und einem Buch zu genießen. Ihr letzes hatte sie gestern Abend erst zu Ende gelesen. Ein Buch über Magie und mit Drachen. Eine einseitige Liebe und den Hass der dabei entstand. Das Verständnis fehlte, und das Herz wurde in Stein verwandelt. Ein schönes Buch in einem schwarzen Umschlag mit nichts weiter als weißen sprenkeln darauf. Schlicht und dennoch verlockend.


In ihrer Überlegung welches Buch sie wohl am kommenden Abend anfangen sollte, bemerkte sie kaum, das es bereits wieder klingelte. Dieses Mal kam es von Unten, die Haustür. Lou sprang aus ihrem Bett, hetze erneut die Treppe hinunter, übersah eine Stufe, stolperte und fing sich zum Glück wieder. Außer Atem öffnete sie die Tür, lächelte Kaja an und wünschte ihr einen schönen Montag. „Dir auch.", lächelte sie zurück und trat ein. „Und? Hast du eines gefunden? Meines ist leider vorhin kaputt gegangen, und ich habe grade kein Geld um mir ein neue zu kaufen.", fragte sie. Lou erklärte ihr, das sie noch gar keine Zeit hatte nach zu schauen, aber zu zweit ginge das eh viel schneller.

Nach dem Auszug ihrer älteren Bruders, war niemand mehr auf dem Dachboden, und das obwohl es bereits ein halbes Jahr her war. Und sauber gemacht wurde dort schon noch länger nicht mehr. Überall stapelten sich Kisten. Unter Staub und Decken stapelten sich Kartons. Helle und dunkle. Heile und kaputte. Mit großen und kleinen Löchern. Gefüllt mit Geschirr, Babyklamotten, den alten Mickey Maus Comic von ihrem Vater. Gerümpel ihres verstorbenen Großvaters, Klamotten und sonstigen kram ihrer Bruders, das er bei seinem Umzug nicht mit nehmen, aber auch nicht weg werfen, wollte. Als Medizinstudent, der sich das Ganze auch noch selbst Finanzieren musste, war es eben nicht so einfach alles in einer kleinen Wohnung unter zu bringen, also nahm er nur das Nötigste mit. Wäre es nach Lou gegangen, würden sie Sachen auch immer noch in Wolle's Raum liegen, aber ihr Vater wollte sich nun endlich einen Traum erfüllen, und baute dort nun schon seit fünf Monaten, an beinahe jedem Wochenende, seine Modeleisenbahn auf. Über Jahre hinweg hat er immer wieder neue Teile gesammelt. Neue Züge, Häuser, Landschaften. Aber erst jetzt konnte er seinen Traum endlich ausleben. Das fand Lou auch nicht weiter schlimm, eigentlich freute sie sich sehr für ihren Vater, aber dennoch fühlte es sich so an, als wäre Wolle nicht nur aus dem Haus, sondern auch aus ihrem Leben gezogen. Kaum war er weg, waren auch seine Sachen verschwunden.
Natürlich war Wolle nicht sein richtiger Name, aber alle nannten ihn so. Er war fünf Jahre älter als Lou, und als sie sieben war, und von einem „Shaun" geredet wurde, wusste sie erst gar nicht um wen es sich dabei handelte. Sie kannte ihren Bruder nur als Wolle, und daran sollte sich auch nichts ändern. Die Kombination aus kurzen, lockigen Haaren und den Namen eines berühmten Schafes, war wohl nicht die Beste die man haben konnte. Aber so war Wolle. Für Späße zuhaben. Und immer mit einem Lächeln auf den Lippen. Großzügig und gutherzig.
„Wann kommt er eigentlich mal wieder her?", fragte Kaja und deutete auf den Stapel Kisten, aus Wolle's Zimmer. „Zu meinem Geburtstag, glaube ich.", überlegte Lou. Es war nun lange kein Geheimnis mehr das Kaja in ihn ihren Bruder verliebt war. Sogar Wolle hatte es bereits bemerkt, auch wenn er bei so etwas immer eine sehr lange Leitung hatte. Und während einer Grillfeier vom Dorf, musste er Kaja sogar einen Korb geben. Sie war für ihn nicht mehr wie eine kleine Schwester, und das musste er, leider, nachdem sie ihm immer näher kam, auch klarstellen. Doch das schockte sie nicht. Es war ok für sie. Kaja wollte wohl einfach nichts mehr als in ihn verliebt sein zu dürfen. Als wäre er ein Promi und sie 'sein größer Fan', zusammen mit Tausenden anderen. Große Hoffnung hatte sie sich wohl eh nie gemacht. Auch wenn, wie Lou fand, die beiden eigentlich ein schönes Paar abgegeben hätten.
„Du glaubst?", harkte sie nach. „Ja.", antwortete Lou und schob ein paar Kisten mit alten Brettspielen und einem Kinderwagen beiseite. „Meine Eltern sollten hier echt mal ausmisten.", ergänzte Lou. Sie wollte jetzt nicht über ihren Bruder sprechen, die Angst ihn dann wieder zu vermissen war einfach zu groß.


Es war ein großer Dachboden, mit einer Menge Zeug drin. Wieso hatte ihr Vater ihn nicht ausgebaut, um dort seine Eisenbahn aufzubauen? Egal.
Rund zwanzig Minuten suchten sie in den Kisten nach einem Bügeleisen, bis sie auf eine Truhe stoßen. Hinter den Kisten ihrer Großvaters. Sie waren nicht verwundert, das dort eine Truhe war, weil so etwas selten war. Nein, eher weil sie schwer aussah, und sie sich daher fragten, wieso man so etwas dann nicht im Keller verstaute, sondern sich die Mühe machte sie die schmale ausklappbare Holzleiter hinauf zu tragen. Eine dunkelraune Truhe aus massivem Holz, und schlichten goldfarbene Verzierungen, sowie goldfarbene Scharnieren, und ein Verschluss ohne Schloss dran. „Sieht alt aus.", meinte Kaja. "Mein Opa wurde ja auch alt.", lächelte Lou. Die beiden blickten sich an und lächelten. Sie dachten wohl das selbe. Auf einem Dachboden gab es keine Schätze, aber mit etwas Fantasie, konnte etwas so ähnlich sein. Man konnte sich einreden das etwas spannendes drin ist, und schon wurden auch die langweiligsten alten Fotos und kleinen Juwelen. Lou öffnete den Deckel, das alte Holz knarzte und krächzte ein wenig, und das eine Scharnier schein bald in zwei Teile zerfallen zu wollen.
Die Truhe war Kniehoch und voll mit Gerümpel, Notizbüchern und Zetteln. „Er war viel auf Reisen. Ich kann mich nicht einmal dran erinnern, ihn je gesehen zu haben.", flüsterte Lou, als müssten sie Angst haben gleich ein Monster zu wecken, das die Truhe bewachte. Die Zettel waren voller Zeichnungen und verschiedenen Schriften, das Gerümpel bestand aus Figuren, sämtlichen Materialien und Ursprungsländern, und die Bücher schienen Tagebücher zu sein. Kaja schlug eines auf und begann vorzulesen: „19. Juni Neunzehnhundert-... irgendwas."
„Irgendwas?".
„Unerkennbar. Scheint als wäre es mal nass geworden, die Tinte ist verschwommen.".
„Ok. Ließ weiter.".
„Ja, ja.", Kaja verdrehte die Augen. „Heute war ich im tiefsten Peru unterwegs. Ein kleines Dorf, die 'Habitantes de los bosques',",
es klang, als wäre sie ein Alien, das in seiner eigenen Sprache sprach,
„oder so ähnlich, lebte dort. Es war ein freundliches Volk, das sehr viel Wert auf Mythen und den eigen Anbau ihrer Lebensmittel legte. Nur selten, handelten sie mit anderen Gemeinschaften. Dann ist wieder ein großer Teil verschwommen. "
„Spannend.", kommentierte Lou begeistert. Kaja lächelte wieder. „Scheinbar gibt es doch Schätze auf Dachböden.", dann las sie weiter: „Ich half viel auf den Feldern mit, während mein Reisepartner die Kunst des Decken weben erlernte. Wir verstanden ihre Sprache kaum, und sie unsere gar nicht. Trotzdem lernten wir mit einander zu kommunizieren, uns zu verständigen und auszutauschen. Dann steht da etwas auf Spanisch, offenbar hat er dann doch noch gelernt, aber ich glaube nicht das es viel Sinn hat, auch nur zu versuchen, es vorzulesen.".
„Stimmt.", kommentierte Lou wieder. Keiner der beiden sprach auch nur ansatzweise Spanisch. Nicht einmal Englisch konnten die beiden besonders gut. Im Zeitalter des Internets, war es vermutlich ziemlich leicht den Text zu übersetzen. Aber das würde wohl die Illusion nehmen.
„Sie gaben mit ein versteinertes Ei mit. Es tauchte in einer ihren Mythen auf, hatte aber wohl keinen großen Wert. Es war wohl ein Zeichen des Dankes.", las sie nun den Rest vor. Die Blicke der Beiden wanderten zurück in die Kiste, und tatsächlich, fanden sie das benannte Ei, eingewickelt in eine Zeitung aus dem Jahre 2014, das Jahr in dem ihr Großvater starb. Vermutlich war die Kiste leer, als sie auf den Dachboden getragen wurde, und erst danach wieder eingeräumt. Und damit nichts kaputt ging, hat, vermutlich ihre Mutter, einige Sachen eingepackt. Vorsichtig, wickelt Lou die Zeitung ab, und gemeinsam betrachteten sie das Stein- farbene Ei, das so groß war, wie Lou's beide Hände zusammen. „Ob da mal was geschlüpft wäre?", fragte Kaja verwundert. „Das ist aus Stein. Oder so etwas ähnliches. Also es ist nicht schwer, aber sehr hart. Unecht.", erklärte Lou. „Aber gibt auch nicht auch Eier, die nur eine versteinerte Schicht hatten?".
„Schon. Aber in dem Text stand doch auch, dass es aus Stein sei.". Tat es das wirklich?
„Es sieht aus wie ein Drachenei. Behalte es doch, du bist doch so ein Drachen - Fan. Das macht sich bestimmt gut in einem deiner Bücherregale.".
Lou überlegte kurz, Kaja hatte schon recht. Und wenn man nicht an die Kiste heran gehen durfte, wäre ein Schloss dran gewesen. Und sie würde schon aufpassen das es nicht kaputt ginge. Auf ein Ei aus Stein würde sie doch wohl aufpassen können.
Sie betrachteten den Inhalt der Kiste noch weiter. Eine alte Porzellan Figur, die aussah wie eine japanische Samurai, getrocknete Blumen, eine Sonne aus Stein. Und vieles, vieles mehr. Aber nichts was die beiden wirklich interessant fanden. Lediglich die Notizen, wollten sie am kommenden Wochenende weiter studieren. Aber jetzt mussten sie wirklich das Bügeleisen weiter suchen, damit Kaja pünktlich zu ihrem Besuch, wieder zuhause sein, konnte.
Endlich, in einer Kisten lag eines. Zusammen mit einem Mixer, sowie eine Konsole und einigen alten Videospielen. Die von der Sorte, die noch keine CD's waren, sondern massives Plastik. Am Ende mussten beide lachen, stand doch tatsächlich auf der Rückseite des Kartons 'ELEKTRO SACHEN' drauf.


Kaja verabschiedete sich mit einem Drücker bei Lou. Endlich war es Zeit aufzuräumen. Das Ei legte sie erst einmal auf ihr Bett. Dann wurden die Scherben weg geräumt, und das Mittagessen für ihre kleine Schwester, Naho, gekocht.

Die Abenteuer von Lou & Q ( Band 1: Zwischen den Zeilen)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt