Kapitel 1: das Leben ist kein Ponyhof

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Kapitel 1
Das Leben ist kein Ponyhof

Rums! Lou wachte auf, Schweiß gebadet und mit einem lauten Knall. Wieder hatte sie diesen Traum, wieder wurde sie von einem Geräusch geweckt, das sie in ihren Träumen hörte. Doch dieses Mal war es anders als die Tage zuvor. Dieses Mal wachte sie auf dem Boden neben ihrem Bett auf. Dieses Mal walzte sie wohl so sehr herum, das sie sich selbst hinaus warf. Auf dem Weg zum Boden nahm ihr Kopf noch eine Stoßprobe mit dem Nachtisch. Auch die Lampe darauf, sollte auf ihre Haltbarkeit getestet werden. Leider bestand sie den Test nicht. „Toll Lou!", dachte sie noch, bevor der Schmerz sich bemerkbar machte. Ein zerren und puckern zog sich durch ihre Schläfe, und eine warme, dickflüssige Masse breitete sich aus. Sie musste wirklich lächerlich ausgesehen haben. Wie sie nun so da lag: halb auf dem weißen warmen Kunstfellteppich und halb auf dem grauen, kalten Laminat. In nichts weiter als einem viel zu großen schwarzen T- Shirt und einem alten, ebenfalls schwarzen Schlüpfer, aus dem bereits die Gummifäden heraus traten, eigentlich ein klarer Fall für den Spendesack, oder Müllbeutel, mit dem Kabel der Nachttischlampe um ihren rechten Arm gewickelt. Mit den Scherben der weißen Keramik- Lampe neben und unter sich, der dicken Beule an ihrem Kopf, die langsam vor sich hin blutete, dem Nachtisch hinter ihr, den sie eh nie leiden konnte, und dem einem Bein noch halb im Bett. „Scheiße!", fluchte sie, ehe sie endlich ihre Hände auf die Wunde drückte. „Verdammte scheiße!", schrie sie. Dass sie seit Tagen bereits unruhig wach wurde, von Alpträumen geplackt und von Geräuschen verfolgt, das war eine Sache. Doch aus dem Bett zu fallen und sich dabei den Kopf an zu schlagen, war eine ganz Andere.


Noch einige Minuten, oder gefühlte Stunden, lag sie so da, ehe sie endlich die Kraft gefasst hatte, um aufzustehen. Mit der einen Hand noch immer auf die schmerzende Wunde gedrückt, schlich sie zum Spiegel hinüber. Das Blut war ihr bereits die Seite hinuntergelaufen, und verklebte nun ihre Harren. Ihre schulterlangen, blond gefärbten Haare. Eigentlich waren sie dunkelbraun, wie die ihrer Eltern. Aber Lou wollte nicht wie ihre Eltern sein. Sie wollte überhaupt nicht wie irgendjemand sein. Sie wollte sie selbst sein. Sie wollte anders sein. Sie wollte das Leute in einem positiven Ton sagten: das ist typisch Lou! So war sie, einzigartig, auf eine Art bei der man sich nicht schämen brauchte. Oder in der man annehmen brauchte, man müsste sich schämen, obwohl das schon lange überholt und lächerlich war. „Mit der Wunde bin ich das jetzt wohl auch", dachte sie, und nahm vorsichtig die Hand hinunter. Die Wunden war zum Glück nicht tief, nur eben ungünstig. An jedem anderen Tag wäre es in Ordnung gewesen eine Verletzung zu haben, aber nicht an ihrem ersten Tag, bei ihrem neuen Job. Ihrem ersten Job. Sie war zwar nur eine Aushilfe, aber dennoch wollte sie einen guten Eindruck machen. Endlich mal etwas richtig machen. Endlich mal... und da viel ihr Blick auf die Uhr, die zum Glück gleich neben ihrem Spiegel hing. 08:37. Um Neun Uhr sollte sie bereits da sein. „Nein. Nein! NEIN!", fluchte sie wieder. „Verdammt nein!", denn Lou fluchte sehr gerne. Dies war wohl eine der schlechten Angewohnheiten, die sie sich von ihrem Vater abgeschaut hatte. Okay, wie sah der Plan aus? Es gab keinen. Selbst mit dem Rad bräuchte sie Zehn Minuten, bis sie da sein sollte. Zehn Minuten bis zu dem Reiterhof, auf dem sie als Aushilfe die Boxen misten und Pferde füttern sollte. Zehn Minuten, bis zu dem Job, dem ihr ihre Tante mit Mühe besorgt hatte. Naja, Mühe war ein ausdehnbarer Begriff. Sie kennt die Besitzerin und hat freundlich gefragt, ob sie Lou nicht etwas Arbeit anbieten könnten, damit sie endlich etwas Geld verdiene. Dennoch war sie sehr dankbar darüber. Zehn Minuten. Dann müsste sie in Dreizehn das Haus verlassen haben. Dreizehn Minuten waren nun wirklich nicht viel Zeit. Ganz besonders nicht, wenn einem der Schädel dröhnte. Ein letzes mal betrachtete sie sich im Spiegel. „Okay.", flüsterte sie. „Okay. Auf die Plätze, fertig...". Und dann schrie sie: „Los!".


Dreizehn Minuten.
Lou rannte ins Badezimmer, drehte den Wasserhahn auf warm und friss ihn nach oben, damit das Wasser floss, und hetzte wieder zurück in ihr Schlafzimmer. Eine Jeans, frische Unterwäsche und ein T- Shirt mussten reichen. Zurück ins Badezimmer.


Elf Minuten.
Schnell und vorsichtig Gesicht und die mit Blut verschmierten Haare waschen. Es brannte in der Wunde, sie biss die Zähne zusammen, und hoffte das es schnell vorbei war.
Neun Minuten.
Haare kämmen, Zopf binden und die Wunde mit einem Pflaster und etwas Salbe versorgen. Zink Salbe. Denn wie sagte ihre Mutter immer so schön? Mit Zink, heilt alles gleich doppelt so schnell. Warum nicht Einhundert- mal so schnell? Dann wäre die Verletzung nun weg.
Danach folgten noch anziehen und Zähne putzen, sowie sich gefühlt ein halbes Kilo Deo unter die Arme schmieren, da die Zeit zum Duschen wohl kaum ausreichen würde. Und die Erkenntnis, dass sie die Socken in der Schublade vergessen hatte, durfte natürlich auch nicht fehlen.
Drei Minuten.
Schnell die vergessenen Socken nachholen, die alten Sneakers anziehen, Schlüssel und Handy in die Hosentaschen stecken, einen kurzen Blick auf die Scherben werfen, die noch immer neben den Bett lagen, denn Kopf schüttelt mit dem Gedanken; „Die müssen bis nachher warten", und dann die Treppe hinunter eilen. Dabei natürlich aufpassen, das keine Stufe übersehen wird, und es zu einem weiteren Sturz führt.
Eine Minute.
In der Küche schnappte sie sich noch eines der Brötchen, die ihr Vater jeden Morgen frisch aufbacken in einem kleinem Körbchen, mit einer blauen Serviette auf den Küchentisch stellte, ehe er sich selbst welche für die Arbeit schmierte. Und auch wie jeden Morgen, lag eine Notiz ihrer Mutter daneben: „Ich wünsche dir einen schönen Tag, Lou.", hatte sie dieses Mal geschrieben. Manchmal standen da auch Sachen wie: „Bring bitte den Müll heraus", oder: „Vergiss nicht Oma heute mit den Einkäufen zu helfen". Als könne sie sich so etwas nicht merken. Als wäre sie noch ein kleines Kind, das man an alles erinnern müsste. Gut, es war nicht so dass sie nicht Tatsächlich eine Menge vergessen würde, wenn man sie nicht daran erinnerte, aber das war doch kein Grund, sie wie ein kleines Kind zu behandeln. Wie sollte sie denn Anfangen sich Sachen zu merken, wenn man ihr das Denken immer abnahm?
An manchen Tagen, hätte sie es auch nicht gewundert, wenn dort so etwas gestanden hätte wie: „Vergiss nicht deine Zähne zu putzen", oder: „Mach doch heute mal Käse auf dein Brötchen, statt dieses zuckerhaltige Nuss- Nougat Creme", obwohl sie selbst sehr gerne welches nutze. Aber Lou war kein kleines Kind mehr. Auch wenn das Gefühl endlich erwachsen zu sein, ebenfalls endlos weit weg schien, war sie dennoch keine fünf mehr. Sondern Achtzehn Jahre, fast Neunzehn. Damit schon Volljährig, seit bald einem Jahr. Laut ihrem Personal Ausweis war sie erwachsen, auch wenn sie sich nicht so fühlte.

Aber halt! Ihre Mutter wünschte ihr nur einen schönen Tag? Keine aufmunternden Worte zum ersten Arbeitstag? Oder eine Nachricht, dass sie doch bitte nicht zu spät dort erscheinen solle? Oder ihre dreckigen Schuhe dann draußen ausziehen soll, wenn sie aus dem Stall käme? Damit nicht der ganze Mist im Haus verteilt wird. Dass sie einen guten ersten Eindruck machen soll? Immer bitte und danke sagen? Kontakte knüpfen und ihre Arbeit ordentlich erledigen? Oder irgendwie so etwas in der Art?
Wieder schüttelte sie den Kopf. Sie hatte jetzt gar keine Zeit darüber nachzudenken, stattdessen musste sie nun endlich los. Wenn sie sich beeilte, würde sie vielleicht nur ganz kurz zu spät kommen.


Lou stürmte aus der Haustür, schnappte sich ihr altes, rostiges Fahrrad, das einmal vor sehr, sehr langer Zeit mintgrün war, und radelte los. Es war gar nicht so einfach mit vollem Tempo durch die Straßen zu fahren, und dabei ein Brötchen zu verspeisen. Einmal hätte sie fast ein Auto gestreift. Sie hörte den Wagen noch hinter sich hupen, und einen Mann aus dem Fenster so etwas rufen wie, das sie doch mal die Augen aufmachen solle. Aber dafür hatte sie keine Zeit. Sie wünschte sie hätte sie, damit sie sich entschuldigen konnte, aber sie hatte sie im Moment einfach nicht. „Das hole ich nach, versprochen!", dachte sie. Dann war es endlich so weit.

Neuer Rekord! Neun Minuten und Fünfzehn Sekunden brauchte sie grade einmal, bis zu dem Reiterhof, der drei Dörfer weiter lag. „Geschafft!", dachte sie. Grade als sie mit dem Vorderrad den Hof befuhr, schlug die Kirchenglocke Neun Uhr. Jedoch hielt ihre Freude nicht lange an, denn ein älterer Herr, mit grimmigen Gesicht kam ihr entgegen. "Wir haben heute Ruhetag!", knurrte er. Einige Falten machte sich in seinem Gesicht breit, und die Schatten und Ringe unter den Augen, sagten, das es wohl eine sehr kurze Nacht war. Oder eine lange, je nachdem wie man es sah. So oder so, bekam der Mann, welchen Lou um die Sechzig Jahre schätze, wohl nicht allzu viel Schlaf. Ähnlich wie sie selbst. Er trug ein dunkelgrünes Hemd, eine dunkelblaue Jeans und einen Cowboy Hut, während seine zottligen graue Haare ihm über der Stirn hingen. War er der Besitzer des Hofes? Der Mann, von der Frau, die ihre Tante nach dem Job fragte? Hatte sie überhaupt einen? Vielleicht war er der Bruder? Ein Angestellter? Erst jetzt wurde ihr klar, dass sie sich wohl hätte besser mit den Leuten vertraut machen sollte, bevor ihr erster Arbeitstag anfing. Vielleicht hätte sie sich schon einmal eher vorstellen sollen. Alleine schon aus Höflichkeit. Vielleicht hätte sie nicht erst auf dem letzen Drücker ankommen sollen. Vielleicht hatte sie wieder einmal alles falsch gemacht. Ja, vielleicht hatte sie das. Vielleicht.
„Ich... ich bin Lou.", stotterte sie. „Schön Lou.", knurrte der Mann; "Wir haben heute zu!". Ein sehr freundliches Empfangskomitee. Am liebsten wäre sie auf dem Absatz wieder umgekehrt. Offenbar wollte man sie hier gar nicht haben. Sie war fehl am Platz. Oder sie war falsch abgebogen und ist auf dem falschen Hof gelandet. Aber wie hoch war dafür wohl die Wahrscheinlichkeit? So viele große Höfe mit Tieren gab es nun auch wieder nicht in der Umgebung.
„Nein. Also ja. Das glaube ich ihnen. Aber ich soll hier Arbeiten. Ab heute. Meine Tante hat...", der Mann unterbrach sie; „GRETA!", rief er. War das der Name, der Freundin, ihrer Tante? Nicht einmal das wusste sie... Aus dem kleinen Fachwerkhaus rechts von ihr, welches wohl dringend mal erneuert werden sollte, schaute nun eine Frau aus einem der Fenster, im ersten Stock. „Ja?", rief sie zurück. „Hier ist ein Mädchen, das sagt sie Arbeitet seit heute hier. Kümmerst du dich darum?".
Die Frau nickte, schloss das Fenster, und kam nach einer kurzen Wartezeit aus der Haustür, und ging zu Lou und dem Mann. „Ich... ich bin Lou.", lächelte sie und reichte der Frau die Hand. „Meine Tante hat...", und wieder wurde sie unterbrochen, dieses mal jedoch von der Frau, die wesentlich jünger aussah, als der Mann. So viel aber auch nicht. Sie schätze die Frau eher auf Vierzig. Vermutlich Vater und Tochter. Sie war dezent rosa geschminkt, die grauen Haare zu einem geflochtenen Dutt gesteckt, und mit dem geblümten Kleid, sah sie aus wie jemand, der jeden Tag einen frisch gebackenen Apfelkuchen auf das Fensterbrett stellte. Mit Äpfeln aus eigenem Anbau. Sie hatte ein ganz anderes Auftreten als der Mann. Irgendwie wacher und lebendiger. Mit einem Lächeln auf den Lippen. „Hallo Lou. ", antwortete sie. „Ich bin Greta. Die Hofbesitzerin. Meinen Vater, Sven , hast du ja bereits kennen gelernt.". „Herr Ustermann. Wie Ostermann, nur mit U.", unterbrach er seine Tochter. „Oder Mustermann, ohne M.", lächelte sie nun ihm entgegen. Aber Sven, oder Herr Ustermann, wie er genannt werden wollte, war wohl nicht danach zu lächeln. Stattdessen ging er nun zu dem Gebäude links von ihr, und verschwand hinter einer der großen Türen. Vermutlich lagen dort die Stallungen. „Er ist heute mit dem falschen Fuß zuerst aufgestanden. Obwohl, wenn ich ehrlich sein soll, tut er das eigentlich jeden Morgen.", lachte Greta und blickte noch einen kurzen Moment ihrem Vater hinterher, bis sie sich wieder an Lou wandte. „Wir haben eigentlich erst morgen mit dir gerechnet.". "Wie morgen?!", schrie Lou in ihren Gedanken. Sie wollte fluchen, und weinen, schreien. In erster Linie weinen. Letztendlich biss sie sich aber nur auf die Lippe und fragte: „Aber heute ist doch der Fünfzehnte? Oder nicht?". Wieder lachte Greta. Hatte sie sich wo geirrt? „Heute ist der Vierzehnte. Montag. Und Montags haben wir geschlossen. Hast du denn gar nicht in den Kalender geschaut?", fragte sie, und schien dabei Lou's Verletzung zu mustern. Ein großer Seufzer verließ Lou, gemeinsam mit einem Kopfschütteln. „Es war ein langer und seltsamer morgen. Da habe ich mich wohl geirrt. Ich habe vergessen auf den Kalender zu sehen. ich war mir einfach so sicher.", antwortete sie. Offensichtlich reichte das, um weitere Fragen vermeiden zu können.


Eine Stunde später war Lou bereits wieder Zuhause. Greta zeigte ihr schnell die Räumlichkeiten. Stall, Misthaufen, Arbeitsutensilien, Pausenraum, Reitplatz. Misten, Einstreuen und füttern. Die Hinterlassenschaften von Pferden und Ponys in den Boxen und auf den Reitplätzen beseitigen. Und das dreimal die Woche. „Was für ein Traumjob.", dachte sie. Natürlich nur Sarkastisch. Und wo lag überhaupt der Unterschied zwischen Pferden und Ponys? Greta erklärte es so, als müsste man es wissen. Aber Lou wusste es nicht. Sie hatte doch noch nie etwas mit Pferden zu tun gehabt. Also doch. Schon. Damals, als Kind auf einem Ferienreiterhof mit der Familie. Aber ansonsten? Sie war von den Tieren nicht abgeneigt, wie wusste nur nichts mit ihnen an zu fangen. Zusätzlich bekam sie noch eine Liste, mit den Bildern und Boxnummer, der Fünfzehn Pferden und Ponys, und wer welches zu futtern bekam. Das eine verträgt dieses nicht, das Andere das nicht. Das nächste braucht Zusatzfutter und so weiter und so fort. Und diese Liste sollte sie wenn möglich auch noch auswendig lernen. Dabei kannte sie doch nicht einmal den Unterschied zwischen Gerste und Hafer. Beides waren doch Getreide, oder nicht? Wo lag dann, außer in der Optik, der Unterschied? Aber das war Lou nun auch egal. Sie sollte nur ihren Job erlegen. Mehr wollte sie auch gar nicht. Endlich Erwachsen werden.
Zurück in ihrem Schlafzimmer, kam der Schmerz in ihrem Kopf zurück. Interessanterweise erst, als sie wieder die Scherben erblickte. Als hätte sie ganz vergessen gehabt, das sie Schmerzen haben müsste, und nun kam die Erinnerung zurück.

Die Abenteuer von Lou & Q ( Band 1: Zwischen den Zeilen)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt