Wenn das Alter keine Rolle spielt

550 1 0
                                    


Als ich Karl im Kindergarten anmeldete und sie mich fragten, wie alt er sei, sagte ich fünf. In Wahrheit ist er 33. Wenn sie sein wahres Alter wüssten, würden sie ihn womöglich nicht aufnehmen. Wir kamen an und natürlich wunderte sich die Leitung, warum er so groß ist. Ich log und sagte, er würde an einer Wachstumsstörung leiden und deshalb auch Windeln benötigen. Natürlich hatte ich Karl vor dem Kindergartenbesuch Bart-und Schamharre abrasiert, um ihn vor eventuell peinlichen Fragen zu schützen.

Jetzt steht Karlchen mit mir und der Leitung Frau Stoop im Türrahmen seiner zukünftigen Gruppe. Ich halte seine Schultern, weil er betreten zu Boden schaut. Ich möchte ihn aus seinen Gedanken holen. „Schau mal hin. Mit den Jungs da verstehst du dich doch bestimmt prima, nicht?"

Karlchen sagt nichts. Ich komme in sein Blickfeld. „Was ist los?"

„Ich will nicht!", erklärt er.

Ich habe keine Argumente mehr. Hilfesuchend blicke ich Frau Stoop an. Dann nimmt sie Karl bei der Hand und geht mit ihm auf eine Couch zu. Ich darf wegen Corona den Gruppenraum nicht betreten. Auf der Couch sitzen zwei Kinder, die von einer jungen Dame etwa in meinem Alter vorgelesen bekommen. Sie trägt schwarzes Haar und hat ein freundliches Gesicht.

„Das ist Carola.", erklärt Frau Stoop. Carola grüßt die beiden freundlich. „Carola – Karl."

„Ich les' was vor.", sagt Carola und deutet dem Kind neben sich an, ein Stück zu rücken, damit Karl neben ihr Platz hat. „Magst du dich dazusetzen?" Jetzt nickt Karl. Zufrieden kommt Frau Stoop zu mir zurück.

„Er wird sich einleben. Geben Sie ihm einfach etwas Zeit." Sie lächelt mich an. Ich nicke, lächele zurück und verlasse dann den Kindergarten. Doch als ich Karlchen am Nachmittag gemeinsam mit Felix abhole, kommt Carola auf mich zu. Sie drückt mir eine Plastiktüte mit schmutzigen Klamotten darin in die Hand.

„Karl ist der Hammer.", erklärt Carola grinsend. „Schafft es, sich am ersten Tag bis oben hin vollzumachen. Ich musste ihn komplett umziehen."

„Ok.", sage ich nur. „Schlimm?"

„Keineswegs. Aber mir ist aufgefallen, dass Karl am Rücken tätowiert ist. Warum? Dazu ist es auch noch ein verbotenes Symbol."

Au Backe! Die SS-Runen. Was soll's? Ich beginne zu erzählen.

Ich lege einen Finger auf die Lippen. „Bitte. Erzählen Sie's niemandem, ja?"

Carola nickt stumm.

„Also Karl... Karl war ein Neonazi. Und er ist gar nicht fünf, sondern 33. Ich hab ihn kennengelernt, als er den Friseursalon eines Freundes überfallen wollte, weil ich in dem Moment bei ihm war. Er hat meinen Freund und mich beschimpft, worauf mir dann die Hutschnur gerissen ist. Ich hab Karl verhauen und ihm als Strafe eine Erwachsenenwindel angelegt und mit nach Hause genommen. Der Kompromiss war, dass ich nicht die Polizei verständigt hab. Seitdem führe ich mit Karl ein sogenanntes >Umerziehungsprogramm< durch, was auch Erfolg hat wie ich finde."

„Umerziehungsprogramm?" Carola runzelt die Stirn.

„Ja. Das Ganze ist letzte Woche passiert, seit dem trägt er Windeln und besucht seit heute diesen Kindergarten. Ein >Neuanfang< ist meiner Meinung nach die beste Methode, damit er keine rassistischen Gedanken mehr entwickelt."

„Wenn Sie meinen. Dennoch werde ich im Kollegium von der Tätowierung berichten müssen. Man wird Sie ansonsten immer wieder danach befragen, weil nicht nur ich mich um Karl kümmern werde. Wir werden ihn weiter aufnehmen. Ich erzähl das auch nicht unserer Leitung. Versprochen."

Ich nicke zufrieden. „Danke."

Carola ruft meinen Zögling zu mir und ich umarme ihn zärtlich. „Na, wie war der erste Tag?"

„Ganz in Ordnung." Er schmiegt sich an mich und küsst mir den Hals. Im Gegensatz zu letzter Woche ist er wie ausgewechselt. Zwar still und in sich gekehrt, statt laut und aufmüpfig, dafür aber schenkt er mir seine Zuneigung. Er löst sich von mir und lächelt. „Gehen wir nach Hause?", fragt er. Ich nicke und verabschiede mich dann von Carola. Ich schiebe Felix und so gehen wir wieder zu dritt in Richtung Ausgang, als Karl Carola zum Abschied winkt.

Keine Nachricht bis XYWo Geschichten leben. Entdecke jetzt