2 Jahre später im Sommer...
Es ist heiß. So heiß, dass wir seit Tagen nicht draußen waren. In unserer Wohnung haben wir die Jalousien heruntergelassen. Felix habe ich im Stehgerät festgemacht, er ist bis auf seine Windel nackt.
Karl sitzt mit einem Buch in einer Ecke. Auch er trägt weiterhin seine Windel. Ich sehe nach dem Briefkasten. Hier findet sich nebst Werbeprospekten von Bau- und Supermärkten ein Umschlag. Ich nehme ihn mit ins Wohnzimmer, die Werbeprospekte werfe ich in den Papierkorb. Aktenzeichen XY ungelöst, München steht in der Absenderzeile des Umschlags. Mir unbekannt. Ich öffne ihn und falte das darin befindliche Papier auseinander.
Nach kurzem Überfliegen zeige ich Felix das Papier. „Wir sind eingeladen, Schatz!"
Der Sprachcomputer meines Freundes liegt auf dem Tisch seines Stehgerätes, so kann er diesen bedienen. „Les mal vor!", tippt er.
„Sehr geehrte Frau Hövekamp,
durch Ihren herausragenden Mut und Ihre große Handlungsbereitschaft im Kriminalfall welcher sich am neunten Oktober 2020 im Friseursalon „Hairbrahim" in Köln ereignete, haben Sie Schlimmeres verhindern können.
Darum sind Sie am vierten November 2022 um 21:00 Uhr herzlich dazu eingeladen, sich den XY-Preis in meiner Sendung abzuholen.
Ich freue mich, Sie bei mir begrüßen zu dürfen.
Mit freundlichen Grüßen
Rudi Cerne
Moderation Aktenzeichen XY ungelöst."
Ich grinse Felix an. „Das ist doch was! Nicht?"
„Ja.", tippt er. „Cool."
„Was?" Karl kommt herüber. Er wirft einen Blick auf das Schreiben. „Aktenzeichen XY? Was ist das?"
„Eine Fernsehsendung, die Kriminalfälle mithilfe der Zuschauer löst. Ich bekomme einen Preis von denen, weil ich dich damals im Friseursalon zur Vernunft gebracht hab."
„Wie?", fragt Karl laut. "Du hast versprochen, das niemandem zu erzählen."
„Hey! Cool bleiben. Erinnerst du dich noch an die Pistole, die du am besagten Tag mithattest? Ich dachte mir bald, sie bei der Polizei sicherstellen zu lassen, weil ich nicht wollte, dass sie ein anderer hier entdeckt."
„Und dann haben sie dich gefragt, woher du die hast, also musstest du alles ausplaudern?"
Ich nicke lächelnd, doch es bleibt mir nicht lange, denn Karl hebt die Faust und donnert mir eine. Der Schlag ist so heftig, dass ich nach hinten stolpere und gegen den Sessel falle. Erst am Boden fällt mir auf, dass meine Lippe blutet.
Ich will mich gerade aufsetzen, als die Bratpfanne auf mich zukommt. Ein dumpfer Schmerz und dann ist plötzlich alles schwarz.
Weil ich einen brennenden Schmerz an meinen Beinen spüre, komme ich wieder zu mir. Ich stelle fest, dass ich nackt auf unserem Herd in der Küche knie. Alle Platten sind eingeschaltet und aus der Stereoanlage dröhnt Iron Maiden. Langsam grillt der Herd meine Beine. Ich möchte von der Küchenplatte herunter, kann mich aber nicht bewegen und sehe mich um. Meine Fußgelenke stecken in den Manschetten einer Spreizstange. Und meine Arme deuten nach oben, weil die Handgelenke ebenfalls an einer Spreizstange befestigt sind. Ein verängstigtes Stöhnen entkommt mir und ich beiße dabei auf einen Gummiball.
Das war Karl. Wo ist er?
Ich bin geknebelt. Unter panischem Stöhnen versuche ich, meine Arme nach vorne zu schieben und stelle fest, dass meine Spreizstange an der Schublade über dem Dunstabzug befestigt ist, welche ich nicht öffnen kann. Jetzt sehe ich meinen unter seinem Knebel schreienden Freund ebenfalls mit Spreizstangen gefesselt nackt in der Spüle sitzen, worauf ich zu weinen beginne. Dampfendes Wasser läuft hinein. Es ist kochend heiß.
Jetzt spüre ich den Schmerz den mir der Herd bereitet, schon an meinem Po und ich beginne vor Schmerz laut zu kreischen, als es plötzlich an der Wohnungstür wummert. „Laura, bitte mach leiser!!", brüllt Ebrahim.
Durch den Knebel kann ich nur dumpfe Laute geben und die Musik ist sehr laut, sodass Ebrahim meine Hilferufe natürlich nicht hören kann. Das Wummern geht weiter.
Karl hat in der Spüle wohl den Abfluss verschlossen, weil das heiße Wasser bei Felix jetzt überläuft und sich seinen Weg auf den Küchenfußboden sucht. Mitleidig blicke ich ihn an und zucke mit den Schultern. Er nickt traurig. Ich kann seine Gedanken lesen: Ich hab mir im Leben mit dir gewünscht, dass ich dich mehr unterstützen kann. Lass uns beten, dass wir es da oben besser haben.
Aus Angst vor dem Tod durch Verbrennen, gucke ich traurig dem Fenster, um ein letztes Mal die Sonne zu sehen. Da steht Ebrahim auf dem Außenbalkon, der vom Küchenfenster aus zu sehen ist. Er blickt mich an und erschrickt. Ich kann hören, wie er an der Balkontür im Wohnzimmer rüttelt. Erfolglos. Zwei Minuten später, als der Wasserpegel fast die Bedienfläche der Spülmaschine erreicht hat, schlägt Ebrahim die Glastür am Balkon mit einer Feuerwehraxt ein. Drei Hiebe und er ist drinnen. Er kommt in die Küche, als ihm das Wasser schon bis zu den Oberschenkeln steht und dreht den Wasserhahn bei Felix zu. Dann springt er auf den Herd zu und macht die Platten aus.
Erleichtert stöhne ich auf. Ebrahim fasst mir hinter den Kopf, der Knebel kommt weg und er öffnet die Manschetten, worauf ich vor Erschöpfung nach vorne kippe. (Für die Manschetten gibt es Vorhängeschlösser zur Extra-Sicherung. Diese hat Karl glücklicherweise nicht benutzt.)
Ebrahim kann mich gerade noch an den Schultern aufrecht halten. Er zieht meine Beine nach vorne, sodass ich aufstehen kann. Beim Gehen fühlt es sich an, als würde ich auf spitzen Nadeln spazieren. Ebrahim stützt mich bis zu einem Stuhl und holt mir eine Decke.
„Danke. Jetzt hilf ihm.", sage ich und deute auf Felix. Nachdem Ebrahim meinen Freund befreit hat, legt er ihn vorerst auf unser Bett im Schlafzimmer. Dann höre ich ihn telefonieren. In den folgenden Minuten kommen Sanis in unsere Wohnung und legen Felix und mich auf zwei Krankentragen. Wir werden angeschnallt. Ebrahim stellt endlich die Musik ab.
„Ich bring euch den Rollstuhl und ein paar Sachen hinterher.", verspricht Ebrahim. Dann überfällt mich die Müdigkeit. Als ich zur Wohnungstür getragen werde, fällt mir an der Tür ein dicker Edding-Schriftzug auf. Die Buchstaben „HE" sind zu erkennen. Karl hat nicht weitergeschrieben. Ihr könnt euch denken, was es bedeuten sollte. Warum hat er sich es anders überlegt?
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Keine Nachricht bis XY
Tajemnica / ThrillerAls der Kölner Neonazi Karl einen jüdischen Friseursalon überfällt, geschieht ihm unvorhergesehenes: Die gerade anwesende Kundin Laura überwältigt ihn und verspricht ihm, nicht die Polizei zu rufen, wenn er mit ihr geht. Karl wird gegen seinen Wille...