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Du bist still. Meiner Meinung nach ein bisschen zu still, irre ich mich? Dabei weiß ich doch, dass du eigentlich eine Menge zu sagen hast. Wieso willst du nicht reden? Ich möchte dich nicht überfüllen mit Worten und Gedanken, die du sowieso nicht verstehst, ich kann mir nämlich nicht vorstellen, dass ausgerechnet dir das gefällt. So frag mich doch! Aber eigentlich hast du doch Recht, oder? Ich an deiner Stelle wäre schon längst aus diesem alten Raum hinaus, zurück in der Freiheit. Aber du, du bist immer noch hier. Du scheinst es wohl wirklich ernst damit zu meinen, dass du meine Geschichte hören und mich kennen lernen willst. Dabei habe ich oft das Gefühl, dass ich mich selbst gar nicht richtig kenne. In diesem Moment denke ich, dass du oder ein anderer wildfremder Mensch, den ich noch nie in meinem Leben gesehen habe, mich besser kennt als ich mich selbst. Ich weiß nicht, wer ich bin. Ich habe mich nie für eine interessante Person gehalten und dass ich selbst keine Ahnung habe, wer ich bin und was mich wirklich ausmacht, sehe ich als einen Grund dafür. Ich habe mich halt nie für mich interessiert, ist es denn schlimm, sich nicht zu kennen? Was würde es mir bringen zu sagen, was ich mag und was nicht. Was würde es dir bringen?
Ich bin ruhelos, das weiß ich inzwischen. Ich kann nie lange an einem Ort bleiben und doch lebe ich immer noch in dieser Kleinstadt und ich habe Angst davor, dass ich hier niemals weg komme. Ich habe fast mein ganzes Leben am selben Ort verbracht, aber nie am selben Fleck. Mit mir hält es eigentlich keiner lange aus. Wäre ich ein Tier, würde ich als schwer vermittelbar gelten und im Heim landen. Man würde mich sogar verschenken, so wertlos fühle ich mich.
Fühlte ich mich. Denn als du auf mich zu kamst, hat sich etwas geändert. Ich weiß nicht, was passiert ist und ich werde es allzu schnell wohl auch nicht begreifen, aber etwas ist passiert. Nichts ist mehr so, wie es gewesen ist, bevor du vor mir standest und alles auf den Kopf gestellt hast. Ich weiß nicht, was ich deswegen empfinden soll und ob ich überhaupt noch in der Lage bin, etwas zu fühlen. Das einzige, was mich beherrscht hat, war die Verzweiflung und das Gefühl der Ohnmacht. Wieso gerade ich, wieso gerade du? Wieso sind wir hier?
Wie hast du mich gefunden und was hat dich so an mir fasziniert, dass du auf mich zugekommen bist? Ich wüsste gerne, was der Grund gewesen ist, der uns hierhin geführt hat. Ich bin so unsicher und ich weiß gerade nicht so richtig, was ich sagen soll. Ich fühle mich so alleine und ungeliebt, in meinem Leben hat es nie jemanden gegeben, der sich sonderlich für mich interessiert hat, ich war immer auf mich alleine gestellt. Ich hatte nichts und niemanden und daran hat sich nichts geändert, bis auf Fred. Ich weiß nicht mehr, welchen Gedanken ich nachhängen soll: dem Gedanken, dass eines Tages alles besser werden wird? Das habe ich viel zu lange gehofft. Schon früh habe ich heraus gefunden, dass das eigentlich nur eine Lüge ist, die Menschen einem auftischen, um sich nicht weiter damit befassen zu müssen. Bist du auch so eine Person oder bist du tatsächlich anders? Ich habe nichts von dir gehört und ich kann dich nicht wirklich einschätzen, ich hatte nie Kontakt zu Menschen wie dir. Du bist wirklich etwas besonderes.

Oh, was hast du gerade gesagt?
Du bist müde?
Ja, ich verstehe dich. Mir geht es genau so.

Es war ein bisschen viel auf einmal, wir können morgen weiter machen, wenn du willst.

Ruh dich aus. Komm, ich decke dich noch zu.

Gute Nacht. Ich hoffe, du hast schöne Träume.

Lieber Leser - eine Geschichte für (und über) dichWo Geschichten leben. Entdecke jetzt