„Schwester Hanna! Aufstehen!"
Zaghaft blinzelte ich mit meinen dreihundert Kilo schweren Augenlidern. „Ich komme.", murmelte ich schlaftrunken und wischte mir die Müdigkeit mit dem Handrücken meiner linken Hand aus dem Gesicht. Schwerfällig raffte ich meinen geräderten Körper ein Stück nach oben und schnappte mir mein Bereitschaftstelefon.
„03:00 Uhr...Wollen die mich verarschen?", stöhnte ich und hievte mich hoch.
Wieder quetschte ich mich in den dreieinhalb Kilo schweren Schutzanzug aus Gummi und lief zur Tür. Sehnsüchtig gönnte ich meinem Gehirn nochmal den Anblick dieser ungemütlichen, wohltuenden Pritsche, bevor ich den Ruheraum verließ.
Nur einen Schritt hatte ich getan. Dieser Schritt beamte mich sofort in die knallharte Realität und zu meiner Verwunderung, war diese um ein tausendfaches chaotischer als vor neunzig Minuten.
Mit diesem Schritt war ich knallwach.
Überall schrien die Patienten. Schwestern, Ärzte rannten wild durch die Gänge.
„Was zur Hölle ist hier los?!", rief ich einen der Praktikanten zu. Er hatte die Hände voll mit Verbandsmaterial und rannte an mir vorbei, bis ich ihn mit einem beherzten Griff am Oberarm stoppte.
Er sah mich an, als hätte ich ihm gerade gesagt, dass die Welt von Außerirdischen eingenommen wird. Seine kleinen, grünen Augen sprühten vor Ehrfurcht und Angst.
„Rede!", zwang ich eine Antwort aus ihm heraus.
„Irgendwas ist mit den Patienten...Sie...Sie schreien alle und...und...sorry, ich muss los!", antwortete er panisch und befreite sich aus meinem Griff. Fragend verfolgte mein Blick, wie er in eines der Patientenzimmer sprintete.
Irgendwas war hier absolut faul.
Vor neunzig Minuten war es ruhig und jetzt wuselte das ganze Krankenhauspersonal durch die Gänge, während die Patienten um Hilfe schrien.
Ihre Schreie waren furchtbar laut. Schrill. Sie schnitten sich in mein Trommelfell wie eines dieser scharfen Tefal-Messer. Furchtbar. Kaum zu ertragen.
„Hey! Was stehen sie hier rum! Wir brauchen jede helfende Hand!"
Der Chefarzt persönlich riss mich aus meiner Trance. „Ja...ja klar. Entschuldigung!", rief ich zu meiner Verteidigung und reihte mich in den Marathon des Personals mit ein.
So schnell mich meine müden Beine trugen, rannte ich zu meiner Station. Die große Dreizehn über der Stationstür machte mir Angst. Wenn die normalen Betten schon so überfordert waren, wie musste es dann auf der Intensivstation aussehen?!
„Hanna! Wo zur Hölle bist du gewesen?!"
Erschrocken von Elisabeths aufgeregter Stimme fuhr ich herum. „Ich habe Bereitschaft. Was ist hier los?", rechtfertigte ich mich vor der Mitte Fünfzig jährigen Stationsleiterin. Sie griff meine Oberarme und schüttelte mich kurz.
Durch den Schutzanzug konnte ich nur ihre Augen sehen. Seit zehn Jahren arbeitete ich mit ihr zusammen. Ich hatte diese Frau in allen möglichen Emotionszuständen gesehen. Trauer, Wut, Freude, lachend, weinend, schreiend, aber in diesem Moment sah ich zum ersten Mal etwas mir völlig Neues in ihren Augen. Angst.
„Hanna...sie...sie...die Patienten...Sie drehen durch. Sie..." – „Helft mir!"
Elisabeths Erklärungsversuch wurde durch das Schreien eines Patienten unterbrochen. Er rannte über den Flur und fuchtelte wildgeworden um sich. Als ich sah, warum, stockte mir der Atem.
„Oh mein Gott...", stöhnte ich erschrocken und sofort rannten wir zu ihm.
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30 Minutes to Utopia
Science FictionAm 31. August 2024 tobt das Corona-Virus schlimmer denn je. Die Krankenschwester Hanna kämpft seit Monaten gegen die immer schlimmer werdenden Symptome der Patienten. Um 03:00 Uhr nachts beginnt eine 30 minütige Reise, in welcher sich Hanna und ihre...