Fünf - 31.08.2024 03:26 Uhr

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Im Gang tummelten sich die Ärzte und Schwestern. Das Gewusel wurde von Minute zu Minute schlimmer und das Stöhnen der Patienten lauter.

Die Intensivstation war ruhiger Ort. Eigentlich gab es hier nichts zu hören, außer das rhythmische Piepen der Herzmaschinen und das dumpfe Geräusch der Beatmungsgeräte. Leise, gleichmäßig und leicht, doch jetzt schreite, stöhnte und keuchte es in jeder Ecke.

In Stresssituation war ich fokussiert. Konzentriert und geradeaus nahm ich mir die Dinge an und versuchte die Probleme wie nach Lehrbuch zu lösen.

Ich rannte also los und suchte Elisabeth. Sie hatte mich gerufen und brauchte ganz offensichtlich Hilfe. Ich kämpfte mich an meinen umherrennenden Kollegen vorbei und folgte den Hilferufen meiner Vorgesetzten.

„Hanna! Wo zur Hölle bist du?!", rief sie wieder und ich folgte ihrer Stimme wie Hänsel den Brotkrumen.

Da stand sie! Hinter der Anmeldung wühlte sie sich aufgeregt durch einen Haufen Protokolle. „Du ahnst nicht, was mir gerade passiert ist.", fing ich an und wurde sofort durch ein aufgeregtes Abwinken unterbrochen.

Sie schmiss die gestern noch sortierten Protokolle durcheinander und seufzte auf. „Hier ist es ja."

Ich beobachtete, wie sie eines der fertiggestellten Protokolle vor meinen Augen auf den Tresen knallte. Fragend folgte ich ihrem Blick und runzelte ungläubig die Stirn, als ich sah, wessen Krankenakte da gerade auf den Tresen geplauzt wurde.

„Herr Müller? Was willst du damit? Das war dieser Verrückte.", fragte ich kritisch. „Was wenn er nicht verrückt war, Hanna? Dr. Hummel hat gesagt, er brauche diese Akte unbedingt. Komm!", rief sie mir zu und bevor ich mich versehen konnte, stürmte sie auch schon den Gang der Station entlang. Ohne nachzudenken, folgte ich ihrer Anweisung.

Herr Müller war ein Patient, welcher meiner Meinung nach eher in die Psychiatrie als auf die Intensivstation gehört hätte. Er verstarb vor drei Tagen an einer Lungenembolie. Bevor er starb, hatte Dr. Hummel entschieden, ihn ins künstliche Koma zu versetzen. Alles ganz normal könnte man meinen, doch bevor wir ihn auf seine Reise geschickt hatten, war Herr Müller ein recht seltsamer Zeitgenosse.

Ständig stammelte er wirre Geschichten. Das alles wäre nur ein Test gewesen und sowas. Ich nahm dieses Gebrabbel nicht für voll. Schließlich hatten die Verschwörungstheoretiker damals in Leipzig schon genug sinnlose Dinge von sich gegeben. Von wegen Covid-19 sei eine von der Regierung erschaffene Krankheit, um China als Wirtschaftsmacht zu vernichten.

Für so einen Unsinn hatte ich als Krankenschwester kein Gehör, denn ganz offensichtlich war Covid-19 keine ausgedachte Krankheit.

„Elisabeth, warte!", rief ich ihr hinterher und rannte über den Flur. Sie ignorierte mich. Hektisch schmiss sie die Tür zum Büro von Dr. Hummel auf. „Ich hab sie!", rief sie euphorisch und knallte ihm die Akte auf den Tisch.

„Sehr gut...sehr gut...", stammelte er nur, während er offensichtlich mit jemanden telefonierte.

„Ich habe die Akte, Dr. Heisch. Sie sagen, sie hätten einen Patienten mit ähnlichen Äußerungen gehabt?"

Der Oberarzt unserer Abteilung telefonierte gerade mit einem Kollegen aus einem anderen Hospital. Was dieser antwortete, konnte ich nicht verstehen.

„Ja..Ja das ist durchaus interessant und sie sagen, ihre Patienten haben auch um 03:00 Uhr angefangen?", stammelte er leise in sein Telefon, während Elisabeth und ich nur fragend im Raum standen und versuchten herzufinden, was genau hier vor sich ging.

„Was ist hier eigentlich los?", fragte ich meine Kollegin und musterte ihre müden Augen. Sie zuckte ahnungslos mit den Schultern. „Ich weiß es nicht. Um 03:00 Uhr ging dieses Chaos los. Die Patienten drehten auf einmal durch. Du hast es selbst gesehen. Offensichtlich ist das hier kein Einzelfall.", antwortete sie leise.

„Alles klar. Ok. Ich sende Ihnen die Akte umgehend zu. Halten Sie mich auf dem Laufenden.", bat Dr. Hummel und beendete damit das Gespräch, bevor er mit dem Telefon in der Hand auf mich deutete.

„Schwester Hanna. Sie müssen diese Akte umgehend digitalisieren und an Dr. Heisch auf dem St. Georg Krankenhaus in Leipzig schicken.", forderte er mich auf. Seine Stimme klang dabei so ehrfürchtig, dass man hätte meinen können, er hätte Angst gehabt.

„Ist ok.", stotterte ich kurz und ging einen Schritt auf ihn zu, um ihm die Akte abzunehmen. Bevor er diese losließ, zog er nochmal kurz an dem Stück Papier. „Beachten Sie! Nur und ich wiederhole nur Dr. Heisch darf dieses Dokument zu Gesicht bekommen. Haben Sie mich verstanden?!", wollte er mit einer ordentlichen Portion Nachdruck wissen.

So hatte er noch nie mit mir gesprochen. Dr. Hummel war seit zehn Jahren leitender Oberarzt dieser Abteilung. In dieser gesamten Zeit hatte er noch nie so streng mit mir gesprochen, wie in diesem Moment. Hinter dem Schutzanzug forderte sein Ausdruck den Tribut der letzten sechsundzwanzig Minuten. Dr. Hummel hatte Panik in den Augen und das machte mir nur noch mehr Angst.

Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, rannte ich mit der Akte bewaffnet aus dem Zimmer.

Im Kopierraum angekommen, scannte ich das Protokoll sofort ein, dabei fiel mein Blick immer wieder auf einen Satz. Mir war gar nicht mehr bewusst, dass er das immer gesagt hatte.

Krampfhaft versuchte ich mich daran zu erinnern, in welchem Zusammenhang er die Worte so oft wiederholt hatte.

„Sie kommen."


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