„Bleiben Sie ruhig! Beruhigen Sie sich! Sie müssen sich verdammt nochmal beruhigen!", schrie ich und hielt diesen jungen Mann vor mir so fest ich konnte an den Armen.
Immer noch schrie er wie ein Angestochener und schlug wild um sich.
„Sie kommen!", brüllte er schrill und hielt sich den Kopf. Er krallte seine Hände förmlich in die verschwitzten, strähnigen Locken und brach halb zusammen. Immer wieder wiederholte er, dass sie kommen würden.
Er zitterte am ganzen Körper. Blass und angsterfüllt stand er im Gang der Station und hielt sich seinen offensichtlich schmerzenden Kopf. Ich kannte ihn nicht. Auf der Intensivstation hielten sich Patienten normalerweise nicht in den Gängen auf.
Das hellblaue Krankenhaushemd hing an seinem dürren Körper wie ein Kleid. Er war so blass, dass man jede Ader an seinem Körper sehen konnte. Ich musste ihm helfen. Das war mein Job.
Ich ignorierte das Chaos um mich herum für einen Moment und versuchte mich ganz und gar auf diesen hilflosen, jungen Mann zu konzentrieren.
„Beruhigen sie sich.", sagte ich sanfter und tat mein Bestes um dieses arme, kranke Wesen mit einem sanften Griff an den Schultern in sein Bett zurück zu verfrachten, doch in diesem Moment schlug er wieder um sich.
Dabei traf mich sein Ellenbogen volles Ballett am Kinn.
Der letzte Mann, der mir so heftig ins Gesicht geschlagen hatte, war mein Bruder, als ich seine Weihnachtssüßigkeiten geklaut hatte.
Ich stieß ein heftiges Stöhnen aus und brauchte eine Sekunde, um mich zu sammeln. Als ich den Schmerz mit zwei Wimpernschlägen weggeblinzelt hatte, griff ich den Unterarm des immer noch schreienden Patienten.
Bevor ich innerlich bis drei zählen konnte, brach er vor mir zusammen. Zitternd und kreischend vor Schmerz lag er auf dem kalten Boden des Flurs und während die gesamte Belegschaft um mich herumwuselte und versuchte den anderen Patienten zu helfen, kniete ich mich neben diesem hilflosen, jungen Mann.
Er hatte sein ganzes Leben vor sich gehabt und doch lag er jetzt vor mir und brüllte sich vor Schmerzen die Seele aus dem Leib. Immer wieder schrie er, dass sie kommen würden und kratzte sich dabei fast die Augen aus.
Panikattacken waren furchtbar. War es überhaupt eine Panikattacke?!
In diesem Moment zweifelte ich an meiner fast dreizehnjährigen Berufserfahrung. Ich fixierte ihn, doch er schrie immer weiter, bis er plötzlich still war.
Wieso war er still?
Er atmete nicht mehr. Herzstillstand. Mist. „Notfallkit! Hier! Sofort!", rief ich und versuchte ihn mit einer Herzdruckmassage zurück zu den Lebenden zu holen.
Was zur Hölle war hier los verdammt?!
In diesem Moment rüttelte Elisabeth an meinem Arm. „Hanna. Er ist tot. Komm.", sagte sie aufgebracht und sofort ließ ich von dem jungen Mann ab.
Ungläubig musterte ich meine Chefin. Ihre angsterfüllten Augen sagten mir, dass ich loslassen musste. Verständnislos atmete ich aus. Auch nach dreizehn Jahren Berufserfahrung fiel mir das Loslassen schwer.
Ich nickte kurz und folgte ihr schnell in den Intensivbereich.
Der junge Mann lag tot auf dem kalten Boden der Tatsachen unserer Zeit. Angstverzerrt und schrecklich blickte sein lebloser Körper gegen die Decke. Innerlich weinte ich um ihn und betete, dass er an einem besseren Ort angekommen war.
Er war maximal dreiundzwanzig Jahre alt gewesen. Eine junge Seele die alle Wege vor sich hatte. Er hätte nicht hier liegen sollen. Er hätte Liebe, Verlust, Angst, Freude und alle anderen so wundervollen Gefühle und Emotionen des Lebens spüren sollen. Dieser teuflische Virus brachte uns um die Zukunft.
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30 Minutes to Utopia
Science FictionAm 31. August 2024 tobt das Corona-Virus schlimmer denn je. Die Krankenschwester Hanna kämpft seit Monaten gegen die immer schlimmer werdenden Symptome der Patienten. Um 03:00 Uhr nachts beginnt eine 30 minütige Reise, in welcher sich Hanna und ihre...