Diamond
Bleistiftstriche. So beginnt es jedes Mal und aus Strichen werden Linien, werden Formen, werden der Beginn einer Zeichnung, bis sie am Ende zu etwas Größerem werden. Alles beginnt mit einem Einfall, den ich nicht länger in mir behalten kann, obwohl ich mich eigentlich auf ganz andere Dinge konzentrieren sollte. Auf das Medizinstudium, das in so kurzer Entfernung liegt und doch so weit entfernt, dass ich keinen Gedanken daran verschwenden will, weil sich meine Welt schon viel zu schnell verändert und ich die drängelnde Veränderung nicht noch schneller akzeptieren will als es unbedingt nötig ist. Am liebsten würde ich die Uhr meines Lebens stoppen oder, noch besser, zurückdrehen und einen Moment lang verharren, bevor die Veränderung mich komplett einholen würde.
Miss Rosland steht entspannt und dennoch mit verschränkten Armen und ungeduldig mit dem Fuß auf den Boden tippend vorm Lehrerpult des Klassenzimmers, in dem eigentlich vor guten acht Minuten das Nachsitzen beginnen sollte.
Ich war pünktlich hier, wie immer. Milena allerdings lässt auf sich warten, wie immer.
Ich bezweifle auch, dass wir beide ohne weitere Vorkommnisse durch diesen Monat kommen. Zwei Stunden dreimal die Woche für einen Monat machen nun mal vierundzwanzig Stunden insgesamt, einen ganzen Tag am Stück. Wenn sie mich diese ganzen vierundzwanzig Stunden wirklich ignoriert oder auch umgekehrt, drehe ich wahrscheinlich durch und raste noch einmal aus. Es ist nicht richtig gewesen, das weiß ich, aber es macht mich kirre wie idiotisch sich dieses Mädchen verhält. In einem Moment lachen wir gemeinsam, flirten gar ein wenig und im nächsten bin ich der Erzfeind, den es zu meiden gilt. Ich werde nicht schlau aus ihr und alle Szenarien, die ich mir zusammenreime, sind mit jedem Mal ein weniger abwegiger. Ein Puzzleteil passt nicht zu seinem Gegenstück, weil es abgebrochen wurde und dieser abgebrochene Teil fehlt bei der Erklärung des gesamten Puzzles, auch wenn man all diese anderen Puzzleteile perfekt zusammengesetzt haben mag.
Als die Tür schließlich endlich aufgeht und ich den altbekannten Klang der hohen, schwarzen Stiefel höre, schiebe ich meine Zeichnung so schnell wie möglich unter den Stapel Matheaufgaben, die sich in meinem Block befinden.
Ich fühle mich ertappt, hebe nur kurz den Blick, um zu sehen, dass sie sich tatsächlich am Tisch neben mir niederlässt und nicht, wie erwartet, so weit wie möglich von mir entfernt.
„Hey-", meint sie zerknirscht.
Ich verdrehe nur die Augen und versuche ihren brennenden Blick auf mir zu ignorieren, durch den sich die Haare auf meinem gesamten Körper aufstellen und ein kalter, aber dennoch angenehmer, Schauder über meinen Rücken rinnt.
„Dann eben nicht", meint sie seufzend.
„Du bist zehn Minuten zu spät", gibt Miss Rosland schließlich von sich und lässt dann ihren Blick zwischen uns hin- und herwandern. Sie scheint uns durchblicken zu wollen, gibt aber irgendwann auf und setzt sich auf das Pult, an dem sie zuvor nur gelehnt hat. „Ihr dürft ruhig miteinander reden. Es wird euch nicht wehtun euch auszusprechen. Je schneller das passiert, desto schneller seid ihr hier raus."
Niemand sagt etwas. Es fühlt sich an als wären meine Lippen versiegelt worden und als ob mich meine Stimme verlassen hätte.
Miss Rosland setzt sich nun auch endlich auf den Stuhl hinterm Pult und beginnt in ihren Unterlagen herumzukramen, wirft uns nur ab und an einen neugierigen Blick zu. Man könnte fast denken sie würde auf irgendetwas Besonderes warten, so oft scheint sie analytisch über uns hinüberzugehen und mit ihren Augen nicht ablassen zu wollen. Es ist schon beinahe gruselig, aber nicht so gruselig, wie mein Körper,
der mir entgegenschreit, dass er sich so sehr nach diesem Mädchen sehnt, das nur wenige Zentimeter von mir entfernt sitzt. Das Mädchen, das mir schon zu oft Vorwürfe an den Kopf geknallt hat, ohne seine eigenen Probleme und Fehler zu sehen. Manchmal beginne ich sogar zu glauben, dass sie das nicht einmal kann. Als ob sie irgendetwas davon abhalten würde, über das sie niemals sprechen wird, wie sie über so vieles nicht spricht, weil es mich nichts anginge, weil es nicht wichtig sei. Manchmal glaube ich sie besteht aus zwei Persönlichkeiten: der Person, die sie vorgibt zu sein und diesen Teil ihrer Person, den sie selbst so sehr verabscheut, dass sie nicht will, dass irgendjemand ihre Verletzlichkeit und Fehler zu entdecken beginnt. Deshalb rennt sie.
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A Detention's Resolution (GER, Band 1)
Romance"Ich habe mir versprochen mich nicht mehr zu verlieben, aufzuhalten, dass alles sich wie in einer unendlichen Schleife wiederholt. Es hat funktioniert, zwei Jahre lang, bis sie meine ganze Welt auf den Kopf gestellt und verändert hat und das, ohne ü...