Kapitel 15 ✔️

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Milena

Als ich endlich wieder auf den Sandsack einschlagen kann, fällt mir zum ersten Mal so wirklich auf wie sehr ich das Boxen eigentlich vermisst habe. Wie sehr ich es vermisst habe auf dieses verdammte Ding einzuschlagen, so idiotisch das auch klingen mag. Es beruhigt mich und obwohl ich danach immer total fertig und verschwitzt bin, fühle ich mich nach dem Training immer besser als davor.

Jeder Mensch hat einen eigenen Weg seinen Frust herauszulassen und das hier ist meiner. Für mich ist es der Moment, in dem ich zu schwitzen beginne, meine Muskeln zu schmerzen beginnen und ich mich wieder so lebendig fühle. Es ist, als ob Blitze durch meinen Körper jagen würden und ihn für sich einnehmen würden. Es ist, als ob ich aus einem zu langen Schlaf aufwachen würde und das Leben mir seine Hand entgegenstrecken würde, um mich wieder in seine Arme schließen zu können. Es gibt mir das Gefühl wieder am Leben zu sein und es selbst beeinflussen zu können, anstatt nur daneben zu stehen und das Leben, mit all seiner verrinnenden Zeit, an mir vorbeiziehen zu lassen. Das habe ich schon zu lange getan und das will ich ändern, so schwer dieser Weg auch sein mag, so viele Steine man mir auch in den Weg zu legen versucht.

Als ich meine Hände zurückziehe und tief durchatme, spüre ich bereits wie meine Finger und Knöchel zu kribbeln beginnen. Mein vollgeschwitztes T-Shirt klebt mir am Rücken und auch zwischen meinen Brüsten ist ein großer Schweißfleck entstanden. Mein Zopf ist mal wieder von meinem Kopf bis zu meinen Schultern herabgerutscht und auf diesen zum Liegen gekommen.

„Sie ist wieder da", gibt Diego lachend von sich und blickt zu meinem Bruder, der mich augenblicklich angrinst und zugleich mit großen Augen anblickt. Er scheint es genauso wenig zu fassen zu bekommen wie ich selbst.

Ich habe tatsächlich nicht damit gerechnet in nächster Zeit wieder hier stehen zu können. Ich weiß, dass das hier nur eine Zwischenstation ist, aber sie ist mir lieber als die Schüttelanfälle und die zitternden Hände, auch wenn ich weiß, dass diese beiden Dinge schneller wieder da sein werden als ich damit rechnen kann.

„Hab dich schon vermisst, Schwesterherz", meint Al scherzend.

Und entgegen all meiner alten Versprechen und meinen neuen entsprechend beginne ich zu lächeln.

Zunächst wirkt mein Bruder verwirrt, aber als ich auf ihn zulaufe und ihn fest in meine Arme ziehe, lässt er sich keineswegs davon abhalten mich fest an sich zudrücken, auch wenn die Überraschung ihm wahrscheinlich noch immer tief in den Gliedern sitzen muss. Seine Umarmung ist kräftig und irgendetwas sagt mir, dass er gerade das größte Grinsen überhaupt auf seinen Lippen trägt und mich gar nicht mehr loslassen will und, wenn ich ganz ehrlich bin: ich will das auch gar nicht. Ich will ewig in dem verschwitzten Boxstudio mit ihm stehen und ihn so lange festhalten, bis uns beiden die Luft ausgeht und uns die Trainerin rausschmeißt, weil sie zumachen muss. Ich will ihn solange festhalten, bis die Nacht den Tag komplett verschluckt und uns der Mond auf dem Heimweg begrüßt, sodass Al und ich rauchend nach Hause laufen, nur damit er sich aufregen kann, dass Mama es nicht mag, wenn ich rauche, obwohl er doch selbst keinen Deut besser ist. Wenn dann nur darin es vor ihr zu verstecken. Alwin Cohen ist eben nicht immer so perfekt wie unsere gläubige, jüdische Mutter es gerne hätte.

Als mein Bruder sich schließlich doch von mir löst, fühlt es sich fast so an, als ob etwas fehlen würde. Erst jetzt wird mir bewusst, wie sehr ich all diese Dinge vergessen habe. Dinge, die mir früher so leichtgefallen sind, dann aber immer schwieriger wurden, nachdem mein Leben einen Hügel heruntergeschubst wurde und ich mich nicht vor dem Fallen habe abhalten können, bevor es bereits geschehen war, nur um dann meinen Weg schwerlich wieder an die Spitze zu finden.

Alwin zieht mir das Haargummi aus den Haaren und sie fallen mir in ihrer vollen Länge beinahe bis zu den Hüften hinab. An ihre Länge habe ich mich ebenso lang geklammert wie an das Tattoo auf meinem linken Vorderarm. Es ist das Vergissmeinnicht, das Diego auf seiner linken Schläfe trägt. Das Vergissmeinnicht, das mich daran erinnern nicht zu vergessen. Ich will nicht vergessen, aber ich will mich erinnern, bis es nicht mehr schwerfällt an all die unschönen Momente zu denken und Stärke aus ihnen zu ziehen, anstatt von ihnen zerstört zu werden. Es soll mich daran erinnern nicht vergessen, bis ich das Fotoalbum aufschlagen kann, ohne bei dem Anblick direkt zu weinen zu beginnen.

A Detention's Resolution (GER, Band 1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt