Dein Spiegel

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Ich öffne die Tür, sie quietscht noch immer. Das hat sie schon, als Micha und ich als Kinder im Wäldchen hinter dem Haus Cowboy und Indianer gespielt haben. Scheußlich dieses Meow, das sich in die Länge zieht wie ein Kaugummi. Sobald ich sie geschlossen habe, verstummt es mit einem letzten Fußtritt gegen mein Trommelfell.

„Ich bin's." Du sitzt kerzengerade im Lehnstuhl am Fenster, man merkt dir die gute Haltung an, die dir im Mädcheninternat anerzogen wurde. Allein der Sonntagshut rutscht dir ins Gesicht und zu deinem karierten Wintermantel hast du Vaters alte Pantoffeln angezogen. Du wolltest ausgehen, wohin, warum, wer weiß das schon.

„Na, wie hat dir das Frühstück geschmeckt?" Ich küsse dich auf die Wange. Meine Lippen berühren deine raue, faltige Haut und ich sauge den vertrauten Geruch von Lavendelöl ein. Früher war es umgekehrt. „Marianne, mein Schatz, du wirst dir noch den Hals brechen!", hast du gerufen, wenn ich auf den glitschigen Küchenfließen an dir vorbei gesaust bin. Ich habe gezappelt und geflucht, aber du hast mich festgehalten und von Kopf bis Fuß mit deinen schmatzenden Küssen der Mutterliebe bedeckt. Nun hast du keinen einzigen mehr für mich übrig.

Ich nehme deine Hand und halte sie fest. Brr, wie kalt und schlaff sie in der meinen liegt! Trotzdem beginnt es in mir zu kribbeln sobald ich dich berühre, erst in den Fingerspitzen, dann überall. Einen wunderschönen Moment lang flackert das Kaminfeuer in Opas Jagdhütte auf, so voller Wärme und funkensprühender Lebenslust. Dann drücken Knorpel und Knochen gegen meine Haut, au, das tut weh, und das Feuer erlischt. Woran denkst du? Du starrst durch das Fenster hinaus auf den Wald, dessen Bewohner ein Kleid aus feuerroten und goldenen Blättern tragen. Ein schmaler Pfad führt hinein und wenn man ihm folgt, kommt man zu unserer Lichtung.

„Mutter?" Deine Augen huschen zu mir hinüber wie scheue Rehe. Was willst du von mir?, fragen sie. „Mutter!" Jetzt sehen sich die Rehe gehetzt um, die Jagdhunde sind dicht hinter ihnen, kommen näher, immer näher, sie holen auf, noch ein paar Schritte, ihre Pfoten fliegen über den feuchten Waldboden, ihr Hecheln wird verlangender, sie setzen zum Sprung an...

„Was soll denn das? Was erlauben Sie sich?" Du ziehst deine Hand weg, sie entgleitet mir wie schmierige Seife. Nein, Mutter, bleib bei mir! Doch die Rehe entkommen den wilden Hunden, den Schatten aus der Vergangenheit, die sie aus ihrem vernebelten, aber sicheren Jetzt reißen. Die entflohene Hand schließt sich um einen runden Gegenstand, der in deinem Schoß liegt, verborgen in den Tiefen deines Mantels.

Ich mache die Augen zu. Wir sind wieder auf unserer Lichtung, Micha, Vater, du und ich. Deine strohblonden Haare erstrahlen im Glanz der letzten Sonnenstrahlen und zaubern ein Lächeln auf dein Gesicht. Der Wind wirbelt bunte Blätter durch die Luft, schreibt mit ihnen unsere Namen.

Ich schnappe sie mir und-schwupp- rieseln sie auf dich herab. Kreischend springst du auf. Du packst mich um die Hüften und wirbelst mich im Kreis herum, schneller und schneller, bis die Welt um mich herum in einem Strudel aus Farben verschwimmt. Micha und Vater stimmen in mein Lachen ein und wir fallen in einer einzigen Umarmung zu Boden.

Nein, ich will nicht, geh nicht weg, schick mich zurück! Dieser Moment gehört mir, er gehört der Zukunft, er darf nicht... Doch er tut es. Ich öffne die Augen und das Lachen verstummt, da ist nur noch die alte, vor sich hin murmelnde Frau im Lehnstuhl. Mein Blick wandert in ihrem Zimmer umher. Überall hängen Fotos. Fotos einer Familie im Italien-Urlaub, Fotos eines stattlichen Jägers mit seinen Hunden und Fotos einer Hochzeit in Weiß. Wenn ich sie dir zeige, schiebst du sie von dir weg. Es sind die Bilder einer Fremden, die nie wieder existieren wird. Ich schlucke. Tränen kullern meine Wangen hinab. Lass das, Marianne. Große Mädchen weinen nicht.

„Darf ich mal sehen?" Behutsam greife ich nach dem Gegenstand in deinem Schoß und du lässt mich gewähren. Es ist dein alter Mädchenspiegel, ein Erbstück deiner Großmutter. Meine Hände zittern, als ich ihn dir vors Gesicht halte. Eine Chance, eine letzte Hoffnung. Erkennst du dich im Spiegel? Hat dein Leben, haben wir, dir etwas hinterlassen, das nicht ausgelöscht werden kann?

Bitte, Mutter. Du regst dich nicht. Dir blickt eine Frau mit eingefallen Wangen entgegen, deren Weg bald endet. Wer ist sie? Nichts an ihr kommt dir vertraut vor, du kennst weder ihren Namen noch ihre Geschichte. Neben ihr, da siehst du eine blasse Vierzigjährige mit Sommersprossen und grauen Augen wie den deinen. Vor vielen Jahren hat der Wind eure Namen mit bunten Blättern in den Wind geschrieben, doch du kannst sie nicht mehr lesen. Ich sehe dich im Spiegel, aber du siehst mich nicht. Siehst uns nicht. Du erkennst dein eigenes Spiegelbild nicht mehr. Dein Spiegel der Erinnerung und mit ihm alles was ist und sein könnte, er ist zerbrochen.                                                    

Die Schatztruhe- KurzgeschichtensammlungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt