Die Mauer in den Köpfen

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Linette schob den Vorhang ein Stück zur Seite und schürzte die Lippen. Das, was sie da im Hof sah, gefiel ihr ganz und gar nicht. Seine dunkle Haut glänzte im Sonnenlicht, ja sie war so dunkel, dass die Falten, die sich allmählich einen Weg über sein Gesicht bahnten, kaum zu sehen waren. Eine Schweißperle lief seine Stirn hinab, doch die Anstrengung tat seiner Laune keinen Abbruch. Schon wieder pfiff er dieses Lied. Sie kannte die Melodie, wusste aber nicht, wie es hieß. Irgendeins von diesen primitiven Liedern der Farbigen. 

„Linette, Schatz, ich bin wieder da!" Sie seufzte. Da kam Roger, zurück von der Nachtschicht im Krankenhaus. Wie oft sie in den letzten beiden Monaten gemeinsam eingeschlafen waren? Linette konnte sich nicht erinnern. Nun polterte er in die Küche, drückte ihr stürmisch einen Kuss auf die Wange und angelte sich eins der Brötchen, die der Bäckersjunge am Morgen gebracht hatte. Als er ihre zusammengekniffenen Augen bemerkte, folgte er ihrem Blick. „Ach Linette, lass doch. Er macht seine Arbeit gut und du weißt, dass er das Geld braucht. Seit seine Frau gestorben ist, muss er die fünf Kinder alleine versorgen." Roger hielt inne. Es war zwecklos. Er erkannte an Linettes ausdruckslosen Blick, dass die Leidensgeschichte eines Farbigen sie nicht interessierte. Nun gut, er war müde und hatte keine Lust, sich wegen des Gärtners mit seiner Frau zu streiten. Das System war nun mal wie es war und er würde es nicht ändern können. Mit einem schlichten „Ich gehe schlafen, Schatz. Pass auf Penny auf", machte er sich auf den Weg Richtung Bett. 

Ach ja, Penny. Um diese Uhrzeit wachte sie normalerweise auf. Linette seufzte. Bald war es vorbei mit der morgendlichen Ruhe. Wie auf ein Kommando ertönte ein Schrei aus dem ersten Stock. Linette eilte die Treppe zwei Stufen auf einmal nehmend hinauf. Penny erwartete sie schon. Sie stand aufrecht in ihrem Laufstall und rüttelte an den hölzernen Gitterstäben. Ihre Wangen waren gerötet und ihre Augen zu Schlitzen verengt. Gleich würde sie anfangen zu toben. „Sch, Pénélope... Du weckst Papa noch auf." Linette hob die Kleine hoch und wischte ihr den Schweiß von der Stirn. Wahrscheinlich Albträume. Penny beruhigte sich, als Linette sie zurück auf dem Weg in die Küche in ihren Armen wiegte. Sie trug keine Schuld, das mit Sophie konnte ein zweijähriges Kind noch nicht verstehen. Was hatten sie ihr erzählt? Ach ja, dass Sophie nach Paris gezogen war, weil sie den Eiffelturm so sehr liebte. 

Linette setzte Penny in den Hochstuhl und holte ein Fläschchen Babybrei aus dem Kühlschrank. So, kurz aufwärmen, Löffel holen, Penny den Brei eingeben. Pfff!!! Der Brei spritzte in hohem Bogen durch die Luft, ein guter Teil landete auf Linettes neuer Bluse. „Penny, was soll denn das?" Entsetzt sah sie ihre Tochter an. Penny spuckte Essen aus? Hatte Sophie ihr das nicht längst abgewöhnt? Oder war da ein spezieller Trick gewesen, mit dem man Penny zum Schlucken bringen konnte? Linette konnte sich nicht erinnern. Wie auch, bei den ständigen Benefizveranstaltungen und Geburtstagen wichtiger Leute? Roger arbeitete zu den unmöglichsten Zeiten und wenn er doch einmal zu Hause war, schlief er. Als Familie von Rang und Namen musste man seinen guten Ruf verteidigen, das hatte ihr ihre eigene Mutter stets eingetrichtert. Also blieben die Teenachmittage mit den anderen Ärztegattinnen und Bankiersfrauen an ihr hängen. 

Während Linette die Bluse mit einem feuchten Tuch abwischte, musterte sie Penny. Die klebrigen Händchen, die rosigen Wangen, der fragende Blick in ihren Augen, fragend und distanziert, als erkenne sie ihre eigene Mutter nicht mehr. Linette spürte einen Stich in der Brust. Das war nicht die Penny, die die Arme nach ihr ausstreckte, sobald sie das Zimmer betrat und die zu weinen anfing, wenn sie sich zu weit entfernte. Diese Penny hier legte keinen Wert auf Linette, sie wollte Sophie. 

Die Schatztruhe- KurzgeschichtensammlungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt