Ikarus oder auf halber Höhe ist es doch am schönsten

15 4 0
                                    

Stille. Nichts als Stille. Ich fahre mit meinen Fingern durch das feuchte Gras. Uh, wie das kitzelt. Eine sanfte Brise erfasst mein Haar und Strähne um Strähne legt sich über mein Gesicht. Meine Mundwinkel zucken. In der Ferne kreisen Möwen am Horizont und am Fuße des Hügels erstreckt sich der Strand, der mit seinen schroffen Felsen und umgestürzten Baumstämmen nichts mit den Touristenstränden aus den Reisekatalogen gemeinsam hat.

Gierig atme ich die frische Luft ein. Vor einem Jahr noch wäre es mir niemals eingefallen, einen Nachmittag lang durch die Gegend zu schlendern und mich im Schneidersitz auf dem blanken Boden niederzulassen, nur weil ich gerade Lust dazu habe. Der Käfer, der über meine Hand krabbelt, das Rauschen der sich an den Felsen brechenden Wellen, die vereinzelten Sonnenstrahlen, die sich tapfer durch die Wolkendecke kämpfen, all das hätte mir nicht genügt. Einfach nur hier zu sein, einfach nur ich zu sein.

Vor vier Jahren bin ich diesen Hügel mit weit ausgebreiteten Schwingen hinuntergestürmt. Es waren solide gebaute und hübsch anzusehende Flügel aus den Federn eines Studiums an den prestigeträchtigen Wirtschaftsuniversitäten in London und Stockholm, zusammengehalten durch eine ordentliche Portion Wachs aus Praktika bei McKinsey, Goldman Sachs und Co. Kaum jemand nahm schneller Anlauf als ich, sodass ich mir die Stelle im Investmentbanking schon unter den Nagel gerissen hatte, während die Konkurrenz noch verschlafen blinzelte. Der Wind hob mich vom Boden und trug mich höher und höher, bis die Welt mir zu Füßen lag. Wie klein, wie unbedeutend sie da unten wirkte. Gab es etwas Schöneres, als ganz oben angekommen zu sein?

„Es fühlt sich an, als hätte ich Drogen genommen", erzählte ich meinen Freunden. Mein Herz raste, wenn ich mit anderen an der Börse um die besten Aktien wetteiferte und in meinem Bauch kribbelte es jedes Mal, wenn mein Gehaltscheck eintraf, fast so als flatterten winzige Geldscheine darin herum. Stets war ich die Letzte, die das Büro verließ und die Erste, die am Morgen am Schreibtisch saß. Essen wurde nebensächlich, Schlaf sowieso. Manchmal übermannte er mich allerdings doch, aber wenn ich nachts im Büro aufwachte, arbeitete ich weiter. Gewonnene Stunden, die mir einen Vorsprung verschafften. Nur Tommy, den ich bei Goldman Sachs kennengelernt und der nach dem Studium faul geworden und sich mit einer Stelle in der örtlichen Sparkasse zufrieden gegeben hatte, beschwerte sich manchmal.

„Warum kommst du abends nicht früher nach Hause? Möchtest du nicht mit mir ins Theater gehen? Wie wäre es mit einer Woche Urlaub?"

Ich rollte mit den Augen, wenn er mit seinen lächerlichen Vorschlägen ankam. „Weißt du, wie viele Frauen im Vorstand einer großen Bank sitzen?", keifte ich. „Ja, genau, es sind nicht viele. Man macht keine Karriere, indem man Geburtstagspartys in schäbigen Kneipen schmeißt oder irgendwelchen Nichten dabei zusieht, wie sie im Ballettröckchen über eine Bühne stolpern. Ich will an die Spitze. Und wenn du das nicht verstehst, bist du ein Versager."

Ehrlich gesagt war ich erleichtert, als ich Tommy los war. Daheim feuerte nun niemand mehr lautstark mit einer Flasche Bier in der Hand die Nationalmannschaft an und störte meine last minute-Videokonferenzen mit Shanghai und New York. Ab und an liefen wir uns noch über den Weg, aber mehr als hochgezogene Augenbrauen hatte ich nicht mehr für ihn übrig.

„Victoria, du bist ganz schön kalt geworden", warf mir meine Mädelsclique aus dem Master immer häufiger vor. Auch die hatten den Pfeffer, den sie im Studium noch unter dem Hintern gehabt hatten, längst versprüht und rutschten Tag für Tag mehr in Richtung der bedeutungslosen Masse an BWL-Studenten ab, die zu Dutzenden in unbezahlten Praktika verheizt wurde.

Silvia, die dumme Kuh, war sogar schwanger geworden. Als ob eine Frau mit Kind die leiseste Chance hätte, wenn die Einundzwanzigjährigen von der Uni mit ihrem Zahnpastalächeln angetanzt kamen! Keinen Funken Ehrgeiz die Frau, keinen einzigen Funken. Seltsamerweise schien sie sich auch noch über die Aussicht auf eine schlecht bezahlte Halbtagsstelle zu freuen, denn sie strahlte wie ein Honigkuchenpferd und zeigte jedem die Babysöckchen, die sie jetzt in ihrer Freizeit strickte.

Die Schatztruhe- KurzgeschichtensammlungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt