Friede dem Chaos, Krieg der Vernunft

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Sie liegen säuberlich getrennt vor mir, jede für sich allein. Kiwi thront in der Mitte während es grauslich grün an ihr herunter läuft und hält in spuckender-Grinch-Manier alle auf Abstand. Erdbeere hat wohl ein Kompliment von ihrem Angebeteten bekommen, denn sie hat sich mit puterrotem Gesicht in eine Ecke verkrochen. Stracciatella wirkt ein wenig benommen, so wie ein Schneekönig, der von der Streumaschine mit Kieseln bombardiert wurde, und Schlumpf spreizt seine Federn wie ein aufgeblasener Gockel, um seine auf Gentechnik basierende neonblaue Haut zu präsentieren.

Obwohl keine meiner Eiskugeln mehr alle Streusel in der glitschigen Masse hat, kommen sie mit ihrem persönlichen Tohuwabohu prima klar, weil sie sich nicht auch noch mit dem der anderen herum schlagen müssen. Noch behält die Ordnung die Oberhand, so wie sie es mein ganzes bisheriges Leben lang getan hat. Ich habe mich für einen späteren Job als Steuerberater durch ein BWL-Studium gequält, so solide und grundbürgerlich, dass der Untergang der Mittelschicht erstmal verschoben wird. Seit zehn Jahren habe ich die gleiche Freundin, auch wenn ich mir nicht sicher bin, ob ich sie noch liebe oder nur aus Gewohnheit date. Vom friedlichen GEZ-Steuerzahlen bis hin zur Riester-Rente und meinen frisch gestärkten Hemden verläuft mein Leben vollkommen rund, Ecken und Kanten gibt's bei mir nur am Bingoabend.

Ich setze mich mit meinem Eis vor den Flimmerkasten und bereue es sofort, denn die Nachrichten laufen. Krieg und Landminen und klaffende Ozonlöcher. Überall schreiende Menschen und weinende Menschen, Blut und Dreck. Zu allem Überfluss eine Frau, die von einem riesigen Katzenvieh gebissen wurde und an der Tollwut gestorben ist. Ehe ich mich versehe, verrutscht mir der Löffel und ich richte mein persönliches Massaker an. Kiwi ist entzweit und Erdbeere und Stracciatella sind ineinander verwurschtelt wie die dummen Gänse beim Winterschlussverkauf. Schlumpf spielt Tsunami und begräbt die anderen unter seinen neonblauen Wellen.

Seufzend betrachte ich das Kuddelmuddel. Unmöglich die Ordnung wiederherzustellen. Wollten meine Kugeln vorher absolut nichts vom Leben ihrer Nachbarn wissen, so wurden sie nun ohne jede Vorwarnung auf eine wilde WG-Party verschleppt. Kiwi heult wie ein Kleinkind und die sonst so prüde Erdbeere knutscht unter Alkoholeinfluss hemmungslos mit Stracciatella. Sie verlieren die Kontrolle und doch hat das Chaos was. Statt schnurstracks gerade aus zu führen schlägt ihr Weg auf einmal Hacken. Gedankenverloren mische ich die Party weiter auf und lasse Schlumpf tanzend und Karaoke singend durch die Menge pflügen.

Farben und Geschmäcke wirbeln umeinander wie hyperaktive Regenbogen, bis nichts mehr so ist, wie es einmal war. Ich betrachte das Ergebnis mit hochgezogenen Augenbrauen. Will es ausschimpfen. Auslachen. Dieser quietschbunte, vor Idiotie schreiende Jahrmarkt der Tagträumer, Tunichtgute und Carpe-diem-Fanatiker. Was erreichen die schon im Leben? Wie soll man sich seinen Platz in dieser verdammten Welt erkämpfen, wenn man auf der Wiese liegt und vorüberziehende Wolken bewundert? Origamischmetterlinge faltet, Drachen steigen lässt oder als Mann in Frauenkleidern über eine Bühne rennt? Einfach so? Davon bezahlt man keine Rechnungen und die Ivy League interessiert es auch nicht. Und doch überrascht mich der Farbenstrudel, weil er so erfrischend anders ist. Obwohl die WG aussieht, als wäre eine Elefantenherde durch die Wohnung getrampelt, grinst die Partymeute über beide Ohren. Macht Chaos glücklich?

Ich stelle die Schüssel ab und schalte den Fernseher aus. Chaos macht keinen Sinn. Aber tut diese Welt es denn?

Noch einmal sehe ich die Bilder aus den Nachrichten vor mir. Eine Mutter, die vor ihrem blutüberströmten Kind zusammenbricht. Städte, die unter dem Bombenhagel in sich zusammenfallen wie Kartenhäuser. Politiker, die ihr Volk als willenlose Bauern auf dem Schachbrett des Lebens hin und her schieben, während sie selbst von Bodyguards bewacht keine Konsequenzen tragen. Manager, die selbst die Putzfrau schwarz beschäftigen, während sie sich die Taschen immer voller stopfen. Menschen, denen der Lebensraum unter den Füßen weggespült wird. Und vor allem die Mauern in unseren Köpfen, die aus dem Boden schießen wie Pilze. Die Mauern, die uns vor all dem Unfassbaren schützen sollen, uns aber in einen gläsernen Käfig sperren. Nein, diese Welt macht überhaupt keinen Sinn. Sie ist das pure Chaos.

Ich kaue an den Fingernägeln. Mache ich mir etwas vor, mit meinem von vorne bis hinten durchgeplanten Leben? Ist es falsch, für eine Zukunft zu planen, die es vielleicht nicht gibt? Was nützt mir die Riester-Rente, wenn ich vorher von einem Kakadu attackiert oder zwischen Nazis und Linken zerdrückt werde? Ich könnte ganz klassisch in der Badewanne ausrutschen. Zur falschen Zeit am Hauptbahnhof, im Einkaufszentrum oder im Stadion sein. Mich schaudert es bei dem Gedanken, dass ich mich mit meinem letzten Atemzug nach all dem sehne, was ich auf später verschoben habe: Als Maskottchen die Nationalmannschaft anzufeuern, meiner Oma einen Schlafanzug zu nähen und einen Hund zu adoptieren. Vielleicht sollte ich mich der Chaostheorie anpassen und nicht länger wie ein Fremdkörper durch die Atmosphäre schweben. Habe ich nicht ein Recht auf Planlosigkeit, wenn das Tohuwabohu die Welt regiert?

Schließlich schlecke ich das Eis aus der Schüssel. Ohne Löffel. Einfach so. Verstoße gegen die Logik, wo sich so vieles jeglicher Logik entzieht. Endlich führe ich Krieg gegen die Fäden, die der Verstand an die Marionette meines Ichs geknüpft hat. Die Welt ist, wie sie ist, aber man wird ja wohl noch sinnlos handeln dürfen. Nicht weil es einen Zweck erfüllt, sondern weil es Leute zum Lachen bringt und die Lücke füllt, die das Streben nach Leistung und Moneten hinterlassen hat. Also mache ich mit meiner Freundin Schluss und singe mitten auf dem Marktplatz Karaoke. Schenke Fremden Blumen und lerne Akkordeon. Lasse mich treiben, weil das Leben schön ist. Ohne ein Ziel zu verfolgen, ohne eine maximal leistungsbereite menschliche Ressource zu sein. Alle anderen spielen eine Rolle, die die Gesellschaft ihnen aufgezwungen hat, aber ich bin wieder ich selbst. Einfach so. 

*Preisgekrönte Geschichte: Erreichen des Halbfinales (Runde der letzten Zwölf) der puls-Lesereihe des Bayerischen Rundfunks*

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