Die Ballerina

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Auf meinem Fensterbrett steht die Statue einer Ballerina. Es ist eine schöne Statue, ganz aus Porzellan. Die Ballerina trägt ein Tütü, das sanft ihre Hüften hinab fällt und balanciert auf ihren Zehenspitzen, als gälten die Regeln der Schwerkraft für sie nicht. Ihre Arme erheben sich hoch über ihren Kopf, als versuche sie nach dem Himmel zu greifen, und auf ihren bleichen Wangen schimmert Rouge.

Die Ballerina spannt ihren Körper an und doch bemerkt der Zuschauer das Spiel ihrer Muskeln nicht, denn er ist zu gefesselt von ihrer Eleganz. Ihre Arme und Beine fließen wie Wellen von Figur zu Figur und ihr Körper schwebt mit wie ein Blatt im Wind. Während sie Pirouetten dreht, reißt ein Strudel aus fliegendem Stoff und wirbelnden Beinen die Welt um sie herum mit sich. Für einen Moment, in dem den Zuschauern vor der Bühne der Atem stockt, scheint die Zeit anzuhalten. Auf dem makellosen Gesicht der Ballerina erstrahlt ein Lächeln. Jeder möchte so sein wie sie, doch niemand kennt sie wirklich.

Die Ballerina verbeugt sich ein letztes Mal und tänzelt unter tosendem Applaus von der Bühne. Die Menge staunt, sie beschenkt sie mit Blumen und fragt sich, wie man so viel Glück im Leben haben kann. Sie ist so wunderschön und talentiert und alles scheint ihr zuzufliegen. Was hinter der Bühne geschieht, sehen sie nicht.

Die Ballerina verzieht das Gesicht und öffnet die Bänder ihrer Spitzenschuhe, die ihr ins Fleisch einschneiden. Rote Striemen zieren ihre Beine, doch das zählt nicht. Sie flucht leise, als sie ihre Füße befreit. Auf Spitze zu tanzen foltert die Zehen und die ihren sind schon über und über mit Pflastern beklebt, um die Blasen und blutigen Stellen zu überdecken. Sie bewegt die Füße, doch sie gehorchen ihr nur widerwillig. Das Innere ihrer Schuhe trieft von einer vielfarbigen Mischung aus Schweiß, Blut und etwas, das nach Eiter riecht.

Endlich tupft sie ihr Gesicht mit einem Schwamm ab. Unter dem Rouge und dem dicken Eyeliner schwitzt sie fürchterlich, doch das Make-Up ist wasserfest. Es verdeckt sowohl ihre dunklen Augenringe als auch die Schreie, die manchmal ihrem Mund entfliehen. Unter der Schminke wird sie zu der, die alle beneiden.

Während die Ballerina ihren Rücken eincremt, lauscht sie dem Lärm vor ihrer Garderobentür. Lachen, Getratsche, aneinanderstoßende Sektgläser. Für einen Augenblick schließt sie die Augen, aber sie findet keine Ruhe. Schon kommen die ersten Bewunderer, man möchte gratulieren, vielleicht ein Foto und bietet ihr die nächste Rolle an. Und so lächelt sie und schüttelt Hände, empfängt Küsse auf die Wange und Komplimente für ihre Figur. Als die Menschen wieder weg sind, findet sie auf ihrem Schminktisch ein Tablett mit Trauben und Schokolade. Sie schiebt es weg. Man lobt ihre dürren Beine, doch man bringt ihr Pralinen. Man glaubt, dass ihre schlanke Taille vom Himmel fällt, denn sie selbst sei kein menschliches Wesen, sondern eine Elfe, ein gottgegebenes Wunder. Sie wirkt so unnahbar und niemand gibt sich die Mühe sie kennenzulernen, damit man weiter von ihr träumen kann. Die Welt schaut sie an, doch sie sieht sie nicht.

Ich greife nach der Statue und drehe sie in meinen Händen.

Nichts habe ich mir mehr gewünscht, als so zu sein wie sie. Durch und durch perfekt, von den langen Beinen über die Wespentaille bis hin zu den schmalen Schultern. Ich hätte getötet, um mir ihr symmetrisches Gesicht mit der Porzellanhaut und den azurblauen Augen überzustülpen. Sie tanzte Tag für Tag in aller Vollkommenheit auf meinem Fensterbrett, reich und schön, begehrt und bewundert, während ich auf glühenden Kohlen ging. Ich war kein bisschen wie sie.

Da waren die Pickel, die mein Gesicht bevölkerten wie ein Ameisenvolk, die Ringe um meine Hüften und die metallene Klaue in meinem Mund. Und natürlich das Gelächter der anderen. „Fatty, fatty, hey du Ugly Betty!" Wie sie mit dem Finger auf mich zeigten und mir die Hefte klauten, wie die Mädchen sich wegsetzten, wenn ich an ihren Tisch kam! Wie sie mich mit Salat bewarfen und „Friss lieber dasselbe wie deine Artgenossen, du fettes Schwein!" riefen. An jenem Tag habe ich mein tränenüberströmtes Gesicht in meinen Teddybären gepresst und beschlossen, so zu werden wie meine Ballerina.

Mit dem Finger fahre ich ihre Konturen nach und spüre die Kälte des Porzellans. Ich bin jeden Tag gejoggt, habe mir den Rat der Jungs zu Herzen genommen und nur noch Salat gegessen. Irgendwann sind die Pickel verschwunden und die Spange mit ihnen. Plötzlich war ich beliebt. Die Mädchen haben mich ins Kino und zu ihren Partys eingeladen und ein paar Jungs wollten mit mir ausgehen. Ich konnte kurze Röcke tragen und mich im Freibad sonnen. Vor Freude habe ich die Ballerina umarmt wie eine Freundin, denn zum ersten Mal in meinem Leben war ich glücklich. Doch war ich das wirklich?

Ich blicke in den Spiegel. Ich erinnere mich an den Tag, an dem ich meine Oberschenkel mit den Händen umfassen konnte, als wäre es gestern gewesen. In meinem Bauch hat es wie wild gekribbelt und ich bin kreischend im Zimmer umher gehüpft. Die Mädchen haben mir versichert, dass ich modeln könnte. Das glaubte ich ihnen, auch wenn meine Haut immer trockener und schuppiger wurde und mir oft so schwindlig war, dass ich nicht mehr stehen konnte. Jeden Tag habe ich ein Maßband um meine Hüfte gelegt. Gegessen habe ich nur, wenn es nicht anders ging, und langsam gekaut oder vorher möglichst viel Wasser getrunken. So bin ich jedenfalls ans Ziel gekommen. Keine war dünner als ich, keine beliebter. Ich war die Ballerina auf dem Fensterbrett.

Ich weiß nicht, wann mir aufgefallen ist, dass sie trotz allem nicht glücklich aussieht. Dass ihr Gesicht so unnahbar und ausdruckslos wirkt wie das einer leblosen Puppe. Im Spiegel aber habe ich es in dem meinen wiedererkannt.

Der Kreislaufzusammenbruch und die Zwangsernährung im Krankenhaus haben meine Meinung geändert. Dort habe ich viel nachgedacht. Über mich, über die anderen und über die Ballerina. Mir ist klar geworden, dass ich jedem, der meine Topfigur lobte, am liebsten an die Gurgel gegangen wäre. Und dass meine Mitschüler, die ich früher so bewundert hatte, langweilig und oberflächlich waren. Ich hatte keine Lust mehr, mich ständig zu bestrafen, nur weil ich ich war. Ich war zur Ballerina geworden, aber ich wollte ihr Leben nicht mehr. Am Ende habe ich mich gehasst, die Schnitte auf meinen Armen sind meine Zeugen. Was nützt eine schöne Fassade, wenn man selbst hinter ihr zerbröselt wie brüchiger Beton?

Die Ballerina kracht klirrend gegen die Wand und zerspringt in tausend Stücke. 

Die Schatztruhe- KurzgeschichtensammlungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt