Die Macht, die ich nie wollte

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Die Micky Maus bekommt rote Flecken, zuerst einen auf der Stupsnase, dann welche auf ihrer winzigen Brust und an Armen und Beinen. Rote Schlieren breiten sich auf dem Pulli aus wie Wellen, die bei Flut den Strand verschlingen. Die Kleine kneift die Augen zusammen, als könne sie so die Welt um sich herum ausblenden, während sie immer schwächer atmet. Ihr blasses Gesicht wirkt im fahlen Licht der Glühbirne wie das eines Gespenstes. Ich habe nicht mehr viel Zeit.

Spritze mit Schmerzmittel, Skalpell, Tupfer, Zange. Ich atme tief durch. Schneide die Micky Maus entzwei und nicke der Krankenschwester zu, damit sie das Mädchen mit den dunklen Zöpfen festhält. Die Kleine stößt einen spitzen Schrei aus, als ich die glänzende Kugel aus ihrem Körper hole. Blut durchtränkt meine Handschuhe, während ich mit aller Kraft, die meine Arme aufbringen können, auf die Wunde drücke. Ich atme tief ein und aus. Lasse meinen Blick über das zerbrechliche Geschöpf gleiten, das vor mir liegt. Über die dürren Arme, die schmutzigen Wangen und die aufgerissenen Lippen. Über die Micky Maus, die zerschnitten an dem kleinen Körper klebt. Was ist das für eine Welt, die einem Kind so etwas antut? Ich möchte bei dem Mädchen bleiben, gemeinsam mit ihm kämpfen, doch schon werde ich am Arm gepackt.

„Doktor, Doktor, schnell kommen, Notfall!" Mit einem letzten Blick auf die Kleine eile ich meinem Kollegen hinterher. Wird sie es schaffen? Ich weiß es nicht.

„Doktor, Doktor, nein, hierher!" Weitere Hände greifen nach meinem Kittel. Überall im Sanitätszelt schreien Menschen durcheinander, vermischt sich das Weinen der Kinder mit dem Getrappel von Füßen. Der beißende Geruch von Urin steigt mir in die Nase und ich muss mir ein Taschentuch vors Gesicht halten, um mich nicht zu übergeben.

„Doktor, kommen endlich!" Meine Augen hetzen durch das Zelt wie Jagdhunde. In der linken Ecke liegt eine sich windende Frau, deren Baby einfach nicht zur Welt kommen will, im Mittelgang ein junger Mann, aus dessen Oberschenkel etwas ragt, das verdächtig nach Knochen aussieht, und unmittelbar neben mir ein Kind mit verkohlter Haut, die von unzähligen Blasen übersät ist. Drei Patienten, drei Notfälle, aber nur ein Arzt. Ich.

Manche Menschen genießen die Macht, über Leben und Tod gebieten zu können. Ich wollte sie nie. Einige Sekunden lang stehe ich wie versteinert da, dann treffe ich meine Entscheidung. Das Kind mit den Verbrennungen hat keine großen Überlebenschancen und der Mann mit dem offenen Bruch hält hoffentlich noch kurz durch, aber das Baby wird ersticken, wenn ich es nicht sofort hole. Vor meinen Augen verschwimmt alles und von meiner Stirn tropfen Schweißperlen, als ich mich neben die Schwangere knie. Seit Stunden habe ich nichts mehr getrunken, obwohl die Sonne erbarmungslos auf das Zeltdach brennt. Egal. Ich muss es schaffen, irgendwie. Mit bloßen Händen fühle ich nach dem Kopf des Kindes. Wie vermutet steckt er fest, ich muss ihn drehen. Es gibt kein Betäubungsmittel mehr und die Frau ist den Schmerzen schutzlos ausgeliefert, aber es gibt keine andere Möglichkeit. Nicht hier. Nicht mitten in der Wüste. Die Schreie der Schwangeren klingen in meinen Ohren, aber ich blende sie aus. Das Elend wird allzu schnell Routine. Endlich halte ich das Baby in den Armen und lege es der Mutter auf die Brust, bevor mir schwarz vor Augen wird.

Später wird die Krankenschwester mir erzählen, dass ich nicht lange ohnmächtig war, aber als ich wieder zu mir komme, ist es für den jungen Mann mit dem offenen Bruch des Oberschenkelknochens bereits zu spät. Er ist verblutet.

Mit einer Flasche Wasser an den Lippen lehne ich mich an die Außenwand des Zeltes. Ich blinzle die Tränen weg. Mach dir keinen Vorwurf. Du kannst nicht alle retten. Das wusstest du doch, als du dich für die Arbeit im Krisengebiet gemeldet hast. Manchmal musst du Entscheidungen treffen, um helfen zu können und du musst lernen, mit den Folgen dieser Entscheidungen zu leben. Dennoch schnürt sich mir jedes Mal die Kehle zu, wenn ich Gott spielen muss und Menschen zurück ins Leben hole, während ich andere dem Tode weihe.

Wie seltsam, dass es in diesem Land Leute gibt, einflussreiche Herrscher mit Palästen und Leibwächtern, die es lieben, nach Lust und Laune über das Schicksal ihrer Untertanen zu entscheiden. Für sie scheint es ein Spiel zu sein, die einen mit Orden und Geld zu überhäufen, während sie andere einsperren, foltern und erschießen. Sie brauchen diese Macht über Leben und Tod, die ihre Gegner erzittern lässt, wie die Luft zum Atmen. Sie reiben sich die Hände, wenn ihre Panzer durch die Straßen rollen und lachen hämisch, wenn der arme Schuhmacher um etwas Brot für seine Familie bittet.

Ja, manche Menschen leben für diese Macht. Ich dagegen will sie nicht, eine rot befleckte Micky Maus vor Augen. 

*Preisgekrönte Geschichte: 2

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*Preisgekrönte Geschichte: 2. Platz beim Schreibwettbewerb von Care Deutschland-Luxemburg e.V. mit Kerstin Gier in der Jury und Lesung im Rahmen des Literaturfestivals lit.cologne*

Die Schatztruhe- KurzgeschichtensammlungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt