Ruf der Freiheit

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„Stramm gestanden! Salutieren! Rühren!" Ein Bein wird nach unten gezerrt, dann ein Arm in die Höhe gerissen. Tosender Applaus brandet auf, bevor der Vorhang fällt. Der Soldat sinkt stöhnend zu Boden, den in einem seltsamen Winkel vom Körper abstehenden Arm fest umklammert. „Eine glorreiche Schlacht! Für König und Vaterland, macht eure Familie stolz! Nicht denken, gehorchen. Nur blindes Vertrauen lässt Projektile durch Augen und Lebern sausen als wären sie aus Butter!" Er schneidet eine Grimasse.

„Wie edel, sein Leben für einen Herrscher zu geben, dem man zu Friedenszeiten nicht einmal die Schuhe lecken darf!", schnaubt der Tiger verächtlich und spuckt auf den Boden seines Käfigs. „Aber was gäbe ich darum, unter freiem Himmel in die ewigen Jagdgründe einzugehen. Ich kenne nur dieses vermaledeite Gefängnis, weil deine Rasse sich als Krone der Schöpfung sieht."

„Sei froh, dass dein Käfig aus Eisen und nicht aus Eltern besteht!" Das pausbäckige Kind zerrt mit aller Kraft an den Fäden, die sich um seine Arme und Beine schlingen. „Das kannst du nicht, das darfst du nicht, du bist doch nur ein Kind!" Es stampft mit dem Fuß auf und läuft tomatenrot an. „Das kannst du nicht, das darfst du nicht, du bist doch nur ein Kind!"

Plötzlich ertönt eine liebliche Melodie. Gerührt lässt der Soldat seinen verrenkten Arm los und der Tiger presst die Schnauze gegen die Gitterstäbe.

Eine wunderschöne Frau mit goldenen Locken schwebt heran. Die Schleppe ihres blütenweißen Kleides erinnert an die rauschende Gischt des Meeres, doch die klobige Krone auf ihrem Kopf verwandelt sie von Poseidons Gattin in eine Kaufhausprinzessin. Dem Soldaten klappt die Kinnlade herunter, woraufhin die Schönheitskönigin ihn böse anfunkelt. Ihre Stimme bebt, als sie mit dem Finger auf ihn zeigt. 

„Du, du bist genau wie alle anderen! Wenn ihr mich anseht, seht ihr nur einen herzförmigen Mund, reizende Grübchen und einen Körper, der solange geformt und poliert wurde, bis er aus einer Gießerei für die perfekte Frau stammen könnte!" Mit einem Aufschrei reißt die Schönheitskönigin sich die Krone vom Kopf und wirft sie dem beschämt zu Boden blickenden Soldaten vor die Füße.

„Hört auf zu streiten!" Das Brüllen des Tigers lässt die Schönheitskönigin, das Kind und den Soldaten zusammenzucken. Die Raubkatze schüttelt ihren mächtigen Kopf und eine Reihe spitzer Zähne blitzt auf. „Wir alle sind Marionetten, an denen andere zerren, wie es ihnen passt. Wir alle werden zu einem Leben gezwungen, das wir nicht führen möchten. Lasst uns gemeinsam von hier verschwinden!"

Das Kind klatscht Beifall. „Ich möchte keine Marionette meiner Eltern mehr sein!"

„Und ich keine eines skrupellosen Herrschers, der mich zwingt, zu töten!"

„Keine Marionette einer Gesellschaft, die mich nur meiner Schönheit wegen liebt!"

„Kein frei geborenes Lebewesen, das eingesperrt wurde, weil die Menschen sich über die Natur erhaben fühlen! Hört ihr das? Das ist der Ruf der Freiheit!" Schnaubend senkt der Tiger den Kopf. Nimmt Anlauf. Wumm! Sein mächtiger Körper prallt gegen die Gitterstäbe, die ächzen und knirschen und schließlich nachgeben. Die Raubkatze ist frei.

Jetzt rappelt sich auch der Soldat auf und drischt mit seinem Gewehr auf die Fäden ein, die ihn festhalten, während das Kind knurrend die Zähne in den seinen versenkt.

„Halt, halt!" Die Schönheitskönigin fasst beide an den Händen. „Wir müssen schaukeln, damit die Fäden reißen, alle zusammen!"

Gesagt, getan. Zuerst legt das Kind einen Arm um den Hals des Tigers, dann stürmt die Gruppe los und stößt sich vom Boden ab. Nun sausen alle durch die Luft, schneller und schneller, vor Vergnügen jauchzend. Die Fäden dünnen aus, halten dem Schwung nicht mehr stand und... „Freiheit!" Wie Raketen fliegen die Gefährten über den Rand der Bühne, weiter und weiter und immer weiter...  

Die Schatztruhe- KurzgeschichtensammlungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt