Selbstliebe

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Von scharlachroetlich



Achtung, Triggerwarnung!

Dieser Beitrag beschäftigt sich mit dem Thema Transidentität und Selbstwahrnehmung der eigenen Identität. Es sollte davon abgesehen werden, diese Geschichte zu lesen, insofern sie einen selbst betroffen machen könnte.

Ich widme diese Geschichte einem lieben Menschen, der mich freundlicherweise an seiner Geschichte hat teilhaben lassen, die mich zu dieser (fiktiven) Geschichte inspiriert hat.



Der Spiegel war mir Freund und Feind zugleich. Der bodenlange Spiegel in meinem Schlafzimmer vermochte meinen Körper nie ins rechte Licht zu rücken, ganz gleich, ob ich die Oberlichter meiner Zimmerdecke auf die denkbar geringste Leuchtkraft nun dimmte oder nicht. Letztlich war ich aber derjenige, der seinem eigenen Spiegelbild nie wirklich in die Augen blicken konnte. Jedes Mal waren es Scham- und Ekelgefühle, die mich befielen und mir Übelkeit bereiteten.

„Wie lange ist es her, dass du vergeblich versucht hast, dich so anzunehmen und zu akzeptieren, wie du zur Welt gekommen bist?", murmelte ich gedankenverloren meinem Spiegelbild zu. „Wie lange ist es schon her, dass du dein wahres Ich zugunsten anderer verleugnet hast?"

Ein kritischer Blick, mein eigener wohlgemerkt, streifte kurz und wenig zurückhaltend meinen Körper. Immer wenn ich mich vor den Spiegel wagte, traute ich mich nie, mir selbst unbekleidet gegenüber zu treten. Was für ein andere ein Ausdruck ihrer eigenen Identität war, war für mich zu einer Hülle geworden, in die ich mich einkleiden konnte, ohne zu viel von meiner körperlichen, falschen Identität preiszugeben. Kleidung war für mich ein Mittel zum Zweck geworden, um nämlich die Menschen um mich herum Glauben zu machen, dass ich nicht das war, was sie unter anderen Umständen sonst in mir sehen würden. Eine Frau.

„Wie fühlst du dich heute?", erklang es dumpf hinter meiner Schlafzimmertür. Meine Schwester, mit der ich vor ein paar Monaten zusammengezogen war. Während sie ein Studium absolvierte, zog ich es vor, mich mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser zu halten, sodass zumindest meine laufenden Kosten gedeckt waren. Einer geregelten Arbeit konnte ich momentan nicht nachgehen, da es mir phasenweise immer wieder so schlecht erging, dass ich mein Zimmer, meinen Zufluchtsort, nicht verlassen konnte. Es gab Tage, an denen verfluchte ich alles und jeden auf der Welt und konnte letztendlich doch keinen Schuldigen für meine Misere finden. Und dann gab es Tage, an denen ich einfach nur von einer tiefen Trauer befallen wurde, und noch andere Tage, an denen ich es irgendwie schaffte, einem halbwegs geregelten Alltag nachzugehen.

„Es geht mir gut", rief ich ihr zu und wandte meinem Spiegelbild den Rücken zu. Heute trug ich meinen schwarzen Lieblingshoodie, der zwei Nummern zu groß war, und eine locker fallende Jeans, die meine langen, dürren Beine verbarg.

„Frühstück?", ertönte es von der anderen Seite her fragend.

„Ja, bitte!"

Schlurfende Schritte entfernten sich von meiner Tür und ich musste lächeln. Mel, meine große Schwester, war wirklich kein Morgenmensch und sie war ein Exemplar von Mensch, das selten in den frühen Morgenstunden anzutreffen war. Ich schätzte, dass sie erst vor Kurzem nach Hause gekommen war. Es war Sonntagmorgen und jeden Samstagabend verließ Mel pünktlich gegen acht Uhr die Wohnung, um mit ihren Freunden auszugehen und am nächsten Morgen müde und zuweilen auch verstimmt nach Hause zu kommen. Da sie nicht einmal Alkohol trank, verstand ich wirklich nicht so recht, was sie jede Samstagnacht in die Clubs und Bars dieser Stadt zog.

Herzgeflüster - Eine Anthologie zum ValentinstagWo Geschichten leben. Entdecke jetzt