Karl lag schlaflos in seinem Bett und drehte sich seit gefühlten Stunden von einer auf die andere Seite. Zwei Mal war er in einen seichten Schlaf abgerutscht, der sich angefühlt hatte, als ob er noch immer halb wach war. Das zweite Mal hatte ihn ein Geräusch geweckt, dass er noch nie so nah an seinem Haus gehört hatte.
Karl hatte sich ein kleines Haus mit etwas Grund in einer kleinen Ortschaft gekauft. Hier gab es noch ein paar alte Häuser und noch nicht einmal einen Supermarkt, aber das war genau das richtige für ihn. Er war kein sehr großer Menschenfreund und hier hatte er seine Ruhe. Er setzte sich jetzt auf und fuhr sich durch die Haare. Es hatte sich angehört wie eine Eule. Aber hier hatte sich noch nie eine hin verirrt. Sicher, im angrenzenden Wald gab es welche. Einige sogar. Er stand auf und ging nach unten in seine Küche, um ein Glas Wasser zu trinken.
Irgendwas trieb sich in seinem Kopf herum. Und eigentlich wusste er genau, was es war. Dieses verdammte Haus und der See. Warum hatte er gestern seinem Neffen und seinem Freund nicht alles erzählt? Er hatte sie nicht beunruhigen wollen oder auf dumme Gedanken bringen. Natürlich wusste er, wie der Kerl geheißen hatte. Hermann Klingenbeil.
Er war nicht in diesem Haus gestorben, aber die Einsamkeit tat ihm offensichtlich nicht sehr gut. Nicht jeder konnte damit umgehen allein in der Natur zu leben. Kurz bevor er aus seinem Haus ausgezogen war, hatten sie sich beide noch unterhalten. Karl hatte ein ausgesprochen merkwürdiges Gefühl gehabt. Er würde wieder nach Sonnfelsen ziehen, hatte Hermann zu ihm gesagt. Es wäre zu ruhig hier und er hätte die Schnauze voll vom Malen. Er brauchte wieder etwas Leben um sich herum und vor allem ein paar Frauen. Dann hatte er schäbig gelacht und ihn komisch angesehen. Danach hatte er nichts mehr von ihm persönlich gehört. Allerdings hatte er in der Zeitung gelesen, dass einige Frauen von einem Mann mittleren Alters belästigt worden waren. Es gipfelte in einer vermissten jungen Frau. Karl erinnerte sich schwach daran, dass es eine Studentin gewesen war. Allerdings konnte man niemanden mit der Beschreibung finden. Es gab keine Anzeichen für eine Entführung. Nur eine vage Beschreibung eines Mannes, der in einem Café oder einer Bar, etwas getrunken hatte, ehe das Mädchen verschwunden war. Als Karl die Beschreibung gelesen hatte, war er das Gefühl nicht losgeworden, dass es dabei um Hermann ging. Aber er hatte ihn nun schon seit über einem Jahr nicht mehr gesehen. Und was war, wenn der Kerl jetzt wieder im Haus war? Bilder von einem Folterkeller und einem angeketteten blutenden Mädchen fluteten seinen Verstand wie ein Hornissenschwarm. Vielleicht war sein Neffe in Gefahr.
Ach, das ist doch Blödsinn, dachte er und trank das Glas Wasser aus.
Er saß in seinem Wohnzimmer und sah nach draußen in seinen kleinen Garten. Noch war es dunkel, aber bald würde die Sonne aufgehen. Vielleicht in zwei Stunden. Seine Gedanken kreisten zurück zu seinem Besuch. Etwas war sonderbar gewesen, als er Freitagnachmittag dort gewesen war. Er hatte sich beobachtet gefühlt, als er im See war. Er hatte sogar zu dem Haus gesehen, aber da war nichts gewesen. Nichts außer einem vagen Gefühl, dass er die beiden Jungs schnappen sollte und so schnell es ging verschwinden sollte.
Karl seufzte auf. Etwas nagte in ihm. Er kannte das schon. Er würde keine Ruhe finden, ehe er sich nicht versichert hatte, dass es ihnen gut ginge. Jetzt war ihm auch bewusst, warum er den ganzen Tag schon innerlich unruhig gewesen war. Normalerweise verbrachte er seine Samstage, besonders bei diesem Wetter, ruhig auf seiner Terrasse mit einer Kanne Kräutertee. Er zog seine Kräuter dazu selbst in seinem Garten und mischte nur etwas grünen Tee und Ingwer mit dazu. Er saß dann draußen im Garten und las ein Buch oder sah in die Richtung der fernen Berge. Aber heute war alles anders gewesen. Er hatte ständig neue Projekte angefangen. Erst hatte er seinen Keller aufgeräumt, dann das kleine Gartenhaus in Schuss gebracht und schließlich seine gut gefüllte Speisekammer umsortiert. Karl hatte sich eingeredet, dass er sich nur auf den Winter vorbereitete. Jetzt war ihm klar, dass er nur versucht hatte sich genau das einzureden. Aber sollte er wirklich auf diese leise paranoide Stimme in seinem Inneren hören und jetzt mitten in der Nacht aufbrechen? Die beiden würden ihn für verrückt halten und keine Frage so falsch würden sie nicht liegen. Seine Innereien fühlten sich an wie kochendes Wasser und er spürte, dass es nicht enden würde, ehe er Gewissheit hatte.
Also gut, dachte er. Es ist die letzte Nacht. Morgen hole ich sie bereits ab.
Ja, das stimmte. Vielleicht würde er einfach etwas früher losfahren. Er könnte Frühstück besorgen und ihnen Kaffee mitbringen. Damit konnte er sich selbst beruhigen und die beiden würden ihn vielleicht für nicht allzu aufdringlich und durchgeknallt halten. Elio hatte ihn gestern schon einige Male gemustert und Karl glaubte, dass er ihm seine Version der Geschichte nicht abgekauft hatte. Zu Recht, wie man sagen musste. Wenn Hermann wirklich durchgedreht war, dann war es dort in diesem Haus passiert. Und was würde zwei junge Erwachsene tun, wenn sie es wissen würden? Richtig, sie würden ohne Umwege in das Haus gehen, um Helden zu sein oder ein Abenteuer zu erleben. In ein baufälliges Haus, das seit einem Jahr leer stand. Bei dem die Fenster eingeschlagen waren und es überall rostete und schimmelte. Sie konnten sich ernsthaft verletzten da drinnen. Er hatte es aus gutem Grund nicht gesagt. Er hatte keine andere Wahl gehabt, oder? Zu ihrer eigenen Sicherheit.
Karl stand auf, um sich eine heiße Dusche zu genehmigen. Und auch wenn das Wasser heiß und wohltuend war, so wurde die nagende Stimme in ihm dadurch nicht leiser. Als er in seinem weichen Bademantel zurück im Wohnzimmer war und gerade den Kaffee eingeschalten hatte, wurde das Gefühl stärker als jemals zuvor.
Ich könnte jetzt gleich losfahren und mich zum Zelt schleichen. Und wenn alles ruhig ist und es ihnen gut geht, dann kann ich wieder gehen. Dann wäre Ruhe und keiner müsste davon etwas erfahren, dass ich mir mehr Sorgen mache als meine Schwester. Und dann ein paar Stunden später tauche ich auf, als wäre ich nie da gewesen.
Der Gedanke fühlte sich auf eine komische Art logisch und gut an. Ja, das würde er tun. Fünf Minuten später war er bereits angezogen und saß in seinem Jeep, um die zwanzig Kilometer von seinem Haus zu dem See zu fahren. Erst hatte ihn sein Vorhaben noch beruhigt, aber als den Jeep abgestellt hatte, war das nagende Gefühl wieder stärker geworden und jetzt hatte es sich fast wie Panik angefühlt. War es ein Fehler gewesen die beiden allein zu lassen? Er eilte den Trampelpfad entlang, um den Zeltplatz zu erreichen. Die letzten Meter rannte er. Aber als er endlich da war, fand er nur ein leeres Zelt vor. Spätestens da hatte sich die Panik durch sein Innerstes genagt und war ausgebrochen. Jetzt jagte sie wie eine tollwütige Ratte durch seinen Verstand. Wo waren die beiden? Was war passiert?
Wie Elio einige Stunden zuvor lief auch Karl in den Wald und rief abwechselnd ihre Namen.
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Das Verlassene Haus
Science Fiction[Band I Im Vortex aus Zeit und Raum] Der Campingausflug zweier Freunde nimmt einen grausamen Verlauf. Als David plötzlich verschwindet und Elio die Bekanntschaft eines sonderbaren Fremden macht, scheinen alle Hinweise zu dem verlassenen Haus auf der...