Elio kämpfte sich durch unendlich Weiten zurück ins Bewusstsein. Als er die Augen öffnete, sah er zuerst nur weiß. Alles leuchtete grell in seinem Kopf und eine Welle des Schmerzes schoss durch seinen Schädel wie ein dröhnendes Wiesel, das tollwütig um sich biss.
Was ist passiert?
Er musste die Augen wieder schließen und langsam ein und ausatmen. Sein ganzer Körper pulsierte und kurz verzögert blitzten immer mehr Schmerzquellen auf. Erst sein linker Arm, dann sein rechter Oberarm. Es war ein brennender, fast blendender Schmerz. Dann kam seine linke Schulter. Es war ein dumpfer kehlig pochender Schmerz und dann war da noch sein Knie. Er erinnerte sich daran, wie er den Hang hinab gepurzelt war. Im Vergleich zu den anderen Schmerzen fühlte sich sein Knie seicht und weit weg an.
Diesmal versuchte er langsam die Augen zu öffnen. Erst nur einen Spalt. So war es besser. Nun konnte er auch etwas piepsen hören und spürte, wie etwas in seiner Nase steckte. Er öffnete die Augen weiter und stellte fest, dass er in einem Krankenhauszimmer lag.
Elio konnte sich kaum bewegen. Alles schmerzte noch immer. Vor allem sein Kopf. Es fühlte sich an, als ob er die ganze Woche durchgefeiert hätte und kaum geschlafen hatte. Und das Ganze hoch drei. Immer wenn er versuchte sich aufzusetzen, wurde ihm schlecht und alles drehte sich. Also hatte er es aufgeben und begnügte sich für den Moment, damit einfach nur still da zu liegen und zu hoffen, dass es mit der Zeit besser wurde. Nach und nach waren seine Erinnerungen wiedergekommen. Wie Phoenix ihn nach der Flucht mit David gefunden hatte und sie nochmal in das Haus gegangen waren. Jetzt wünschte er sich, er wäre nie mit seinem besten Freund auf diesen Campingtrip gefahren oder wenn sie doch nur dieses verfluchte Haus in Frieden gelassen hätten. So einfach ist das nicht, fiel ihm ein.
Das Haus hatte nichts damit zu tun gehabt. Es musste nach ihrem Streit passiert sein, als David allein im Wald spazieren war. Vielleicht war er nahe dem Haus an den See gegangen. Entweder das oder es war anders gewesen, aber im Grunde war es einerlei. Wie hatte Phoenix die Wesen genannt? Delauro, dachte er. Ein sonderbarer Name für eine Spezies, die aussah wie ein aufrechtgehender Lurch. Andererseits war Mensch sicher auch kein perfekter Name. Aber warum hatte der Lurch ihm nichts getan, als sie am Donnerstag schwimmen waren? Die Luftblasen waren ein eindeutiges Zeichen gewesen. Warum hatte er also David gewählt und nicht ihn? Vielleicht war ich der Stärkere von uns beiden, dachte er und spürte, wie Dunkelheit in ihm aufstieg und über seine Seele legte.
Wieder versuchte Elio sich aufzusetzen und diesmal gelang es ihm, ohne dass ihm wieder schwummrig zumute wurde. Er dachte an das, was danach passiert war und es lief ihm eiskalt den Rücken herunter. Phoenix' brüchige, emotionslose Stimme kurz bevor es vorbei war ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Wie soll ich das nur je wieder vergessen, dachte er.
Aber etwas in ihm kämpfte gegen das Selbstmitleid an. Er musste aufstehen. Noch konnte er sich nicht ausruhen. Noch hatte er etwas zu tun. Aber ehe er einen Fuß aus dem Bett hängen konnte, öffnete sich die Tür und eine Krankenschwester kam herein. Sie hatte braunes Haar, braune Augen und ein freundliches Gesicht. Auf ihrem Schild stand Karin Wankl.
„Oh, Herr Romito, Sie sind wach? Sehr gut, aber Sie dürfen noch nicht aufstehen", sagte sie freundlich, aber bestimmt und kam zu ihm. Weder ihre Stimme noch ihr Gesichtsausdruck ließ Raum für eine andere Entscheidung. Er sah nochmal auf ihr Namenschild. Er brauchte einen Moment, bis er realisierte, dass er den Namen kannte. Er war mit ihrer Schwester zusammen in die Grundschule gegangen. Was wohl aus ihr geworden war? Er verscheuchte diesen unnötigen Gedanken aus seinem Kopf wie eine Mücke und versuchte sich trotz seiner Schmerzen zu konzentrieren. Er musste hier rauskommen. „Aber...", sagte er und sie unterbrach ihn.
„Sie haben eine schwere Gehirnerschütterung und einige schwere Verletzungen. Sie müssen liegen bleiben. Ich gebe dem Arzt gleich Bescheid, dass er nach Ihnen sieht", erwiderte sie jetzt mit deutlich schroffer Stimme. Sie ist ganz anders als ihre jüngere Schwester, dachte er plötzlich. Marie war immer ein fürsorgliches freundliches Mädchen gewesen. Er schloss für einen Moment die Augen. Warum versuchte ihn sein Verstand ständig abzulenken? Seine Gedanken flatterten umher wie Wellensittiche in einem Käfig.
„Was ist mit...", setzte er nochmal an, aber Karin Wankl stemmte ihre Hände an die Hüften und sah ihn streng an. Jetzt war sie ganz die strenge Matrone. Sie erinnerte ihn jetzt an seine Großmutter, die ihn und seinen Großvater ausschimpfte, wenn sie wieder etwas zusammen ausgefressen hatten. Dann sah sie ihn mit genau dem gleichen Blick an, der eine Mischung aus Strenge und Vorwurf war.
Er räusperte sich und schluckte den Kloß, der sich in seiner Kehle angesammelt hatte nach unten. Er senkte den Blick und versuchte kurz durchzuarbeiten. Karin Wankl registrierte den Blick und schien ihn falsch zu deuten, denn sie sagte: „Es kommt alles wieder in Ordnung." Dabei hatte ihre Stimme einen milden Klang angenommen. Elio hatte daraufhin nur genickt und nichts mehr gesagt. Für einen Moment herrschte eine unangenehme Stille.
„Ich hole den Arzt und dann sehen wir weiter", sagte sie und für einen Moment sah sie ihn prüfend an und er überlegte ernsthaft, ob er nicht doch einfach aufstehen sollte, aber dann setzte sie wieder diesen strengen Gesichtsausdruck auf und er sank zurück. Um ehrlich zu sein fühlte er sich auch noch nicht stark genug aufzustehen. Er war müde, so müde. Es dauerte nicht lange, dann dämmerte er wieder weg und träumte noch einmal, was zwei Tage zuvor passiert war.
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Das Verlassene Haus
Science Fiction[Band I Im Vortex aus Zeit und Raum] Der Campingausflug zweier Freunde nimmt einen grausamen Verlauf. Als David plötzlich verschwindet und Elio die Bekanntschaft eines sonderbaren Fremden macht, scheinen alle Hinweise zu dem verlassenen Haus auf der...