Kapitel 4

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Als ich wieder aus der Toilettenkabine kam, schien die Pause schon angefangen zu haben, da ich Lärm von den Schulfluren vernahm. Ich sortierte meine Gedanken und wankte zum Waschbecken. Dabei wurde mir kurz schwarz vor Augen, ich konnte mich aber zum Glück auf den Beinen halten. Scheinbar machte es sich langsam bemerkbar, dass ich eine Weile nichts mehr gegessen hatte. Ich hielt kurz inne. Warte mal, die Pause hatte angefangen? Was hatte ich die letzte Stunde gemacht? Eventuell war ich kurz weggetreten, vielleicht auch nicht. Um ehrlich zu sein kann ich mir nur noch erinnern, wie ich die Tür zugeschlossen hatte und dann... Was dann? Resigniert blickte ich in den gesplitterten Spiegel. Nicht schon wieder.

 
Nachdem ich meine Hände gewaschen hatte, wollte ich so schnell es ging hier raus. Ich rüttelte an der Tür, doch sie wurde von außen zugehalten. Ich konnte mir schon denken, wer das war und stellte mich mental auf ein paar blaue Flecken ein. War ja nicht das erste Mal. Diesen Tagesprogrammpunkt hatte ich in den Ferien wirklich nicht vermisst.

Alex: Lasst mich sofort raus!

Brad: Das hättest du wohl gerne! Wenn du so unbedingt hier raus willst, warum öffnest du dann nicht einfach die Tür?

Alex: Sehr witzig Brad, wirklich.

Ich hörte einen kurzen Wortwechsel zwischen Brad und den anderen Footballspielern mit an und ging dann einen Schritt zurück. Keine Sekunde zu früh, denn einen Augenblick später stand die halbe Footballmannschaft vor mir. Ihre Blicke verhießen nichts Gutes. Ich probierte, irgendwie an ihnen vorbei zu gelangen, doch sie hielten mich fest und sperrten die Türe ab.

Alex: Kommt schon Leute, lasst uns wenigstens darüber reden!

Sie drängten mich in eine Ecke und kamen mir gefährlich nah.

Brad: Du willst also reden? Wir haben dir letztes Jahr schon gesagt, dass du von hier verschwinden sollst. Du hast nicht gehört. Und wer nicht hören kann, der muss eben fühlen.


Es ist interessant, wie verschiedene Menschen deine äußere Erscheinung komplett anders wahrnehmen. Es braucht oft nur einen Wimpernschlag, um eine Person nach ihrem Aussehen zu beurteilen. Viele Menschen machen das schon unterbewusst und beschäftigen sich danach nicht weiter damit, doch manche fangen an, Geschichten zu erfinden. Oft behalten sie diese nicht für sich, sondern erzählen sie ihren Mitmenschen. Natürlich nur ausgedacht. Logisch. Dann gibt es aber auch noch Menschen, die diese Geschichten ein bisschen zu ernst nehmen und sie fälschlicherweise als reale Begebenheit weitererzählen. Und ehe man es sich versieht, sind Gerüchte im Umlauf. Niemand fragt, ob die Geschichten wahr sind, doch jeder hat seine ganz eigene Sichtweise dazu. Nun stelle man sich mal vor, ein Junge wird am Anfang der ersten Stunde zum Direktor geschickt und wird erst wieder Ende der ersten Pause mit einem blauen Auge gesehen. Ich denke, die Umstände erklären sich von selbst.

Absolut deprimiert schleppte ich mich in den mit Abstand schlimmsten Raum für mich in dieser Schule. Missbilligend blickte ich auf das verranzte Schild, welches die Nutzung des Fachs für jeden Raum angab. Man konnte es schon fast nicht mehr lesen, doch ich wusste nur zu gut, welche Buchstaben darauf standen. Generell fand ich, dass Wirtschaftspolitik ein schreckliches Fach war. Das Ziel des Unterrichts war, dessen Schüler auf maximale Gewinne zu trimmen und ihnen gleichzeitig Empathie und ganzheitlich nachhaltiges Denken abzugewöhnen. Ich hasste es.
Die neue Schülerin war als einzige schon da. Sie blickte mich erstaunt an.

Lillith: Was ist denn mit dir passiert?

Sie klang wirklich schockiert. Meine Güte, hatte sie noch nie ein blaues Auge gesehen?

Alex: Nicht wichtig

Lillith: Doch, das ist es. Jede Art von körperlicher Gewalt auf dem Schulgelände muss im Direktorat gemeldet werden.

Ich rollte innerlich mit den Augen. Das war ja mal wieder typisch Neue, dazu schien sie auch noch eine Streberin zu sein. Ich hasste solche Leute, selbst wenn sie meistens nur helfen wollten. Ich konnte diese Art von Hilfe momentan wirklich nicht gebrauchen.
Mit einem verbitterten Blick stützte ich mich mit meinen Armen auf ihren Tisch und sah direkt in ihre grünen Augen. Schöne Augen hatte sie ja, das musste man ihr lassen.

A: Du bist neu hier, deshalb gebe ich dir mal eine kleine Starthilfe: Du kannst hier Bescheid geben wem du willst, sobald mein Name vorkommt, wird dir niemand mehr zuhören. Genauso wie an dieser Schule nie etwas unternommen wird. Nicht gegen Schläger, nicht gegen Junkies und nicht gegen Dealer. Das ist scheiße, aber niemand kann etwas dagegen tun, niemand wird dir helfen, ganz egal wie...

Ich fasste mich wieder. Das hatte sie nicht wirklich verdient. Ich hatte kurz komplett die Kontrolle verloren. Ich war so erstaunt über mich selbst, dass ich einen Moment ziemlich lost in der Gegend herumstand. Hinter mir kamen andere Schüler zum Kurs.

Alex: Sorry.

Lillith: Schon okay.

Damit ging ich wortlos auf meinen Platz in die letzte Reihe. Ich sollte vielleicht mal wieder was essen, ich wurde recht schnell gereizt, wie eben.

Hätte ich zu diesem Zeitpunkt gewusst, was mich in dieser Stunde noch erwarten würde, wäre ich am besten wieder aus der Klasse verschwunden.

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