Ein schriller Ton durchdrang die morgendliche Luft. Eigentlich sollte ich mich beeilen, aufzustehen, doch der Gedanke an das, was mich erwartete, ließ mich wie ein Mehlsack im Bett liegen. Sollte ich jedoch nicht aufstehen, riskierte ich ein verfrühtes Aufeinandertreffen mit meiner Familie. Das galt es mit allen Mitteln zu vermeiden. Ich sprang auf und packte hektisch meine Rucksack. Nur nichts wie raus hier. Vielleicht konnte ich nachher in der Schule oder im Freibad duschen, Zähne putzen musste ich schon seit einiger Zeit unterwegs. Aber das war nicht so schlimm, ich konnte mich schon immer ziemlich gut an, sagen wir mal, unglückliche Umstände anpassen.
Aber jetzt erstmal von vorne: Mein Name ist Alex, ich bin 16 Jahre alt und lebe in den USA, genauer gesagt in Texas. Und im Moment gehe ich zur High School.
Ein interessanter Ort. Viele Jugendliche kommen an einem bestimmten Platz zusammen, jeden Tag, zur gleichen Zeit, um gemeinsam eine Grundlage für ihr Erwachsenenleben zu erarbeiten, Stück für Stück durch Unmengen an Disziplin, Motivation und Optimismus. Diese Jugendlichen treffen Freunde, finden ihre erste große Liebe oder engagieren sich in eine der zahlreichen AGs hier, um ihren Träumen und Wünschen nachzujagen, solange sie es noch können.Ich holte meine Air Pods raus und machte Musik an, während ich am Rathaus vorbei lief.
Alles steht unter der Staatsgewalt, die über unsere Leben bestimmt. Ich meine, wie absurd ist der Gedanke, dass Alles, was wir tun, nach deren Vorstellungen verläuft. Klar, sie unterdrücken uns nicht oder so, aber sie haben ihre Finger überall im Spiel. Was wäre, wenn unsere Regierung eine ganz und gar andere Richtung eingeschlagen hätte, damals, als unsere Stadt, Mortemtale, gegründet wurde? Naja, mit Sicherheit würde keiner von uns existieren. Stattdessen wäre eine ganz andere Person an deiner Stelle, in deinem Leben. Sie würde bei deiner Familie, die auch eine komplett andere wäre, leben, in deinem Bett schlafen, falls sie überhaupt bei dir zu Hause wohnen würde, und vielleicht sogar deinen Namen tragen. Alex Adams wäre ein ganz anderer Mensch mit einem ganz anderen Namen irgendwo auf der Welt, vielleicht hier aber vielleicht auch nicht.
Bevor ich weiter darüber nachdenken konnte, schob sich ein großes Gebäude in mein Blickfeld: Die Mortem High. Ich fand es immer wieder faszinierend, wie diese Mauern so vertraut und zugleich so fremd auf mich wirken konnten. Viele Dinge sind hier passiert, die ich aufgeschrieben und gesammelt habe, doch all das war in diesem Moment unwichtig. Belanglos. Vielleicht sogar für einen Moment vergessen. Doch ich könnte die Geschichten dieser Schule nie vergessen. Sie sind schließlich irgendwie auch ein Teil meines nicht ganz so glorreichen Lebens.
Während ich so dastand und vor mich hingrübelte, strömte die Schülerschaft auf das Schulgebäude zu, vor welchem sich eine kleine Ansammlung von Menschen bildete. Ich erblickte darunter viele bekannte, aber auch einige neue Gesichter. Während ich das rege Treiben vor mir beobachtete, wurde ich plötzlich von hinten angerempelt. Ich geriet ins Wanken, da ich nicht wirklich das größte Muskelpaket war, wenn man das mal so ausdrücken kann. Als ich mein Gleichgewicht wiederfand, sah ich, wer mich angerempelt hatte. Deutlich wie immer an ihrem tiefschwarzen, langen Haar und ihren feuerroten Lippen zu erkennen, stolzierte Alicia Patterson mit ihrem Gefolge Ashley und Patricia an mir vorbei. Kurz drehte sie sich mit einem abwertenden Blick zu mir um und musterte mich von oben bis unten.
Alicia: Du auch wieder hier? Wollten sie dich nicht eigentlich in irgendein Heim verschiffen?
Sie hatte keine Ahnung, wie sehr sie damit ins Schwarze traf. Aber ich würde keine Schwäche zeigen, vor allem nicht vor ihr und erst recht nicht am ersten Schultag nach den Sommerferien, dazu noch vor der ersten Stunde. Nicht heute und sicher nicht mit mir.
Alex: Tja, es scheint als würdest du mich doch nicht so schnell los werden, Alicia.
Alicia: Das werden wir noch sehen. Wir wissen beide, dass du nicht hier her gehörst und früher oder später von hier verschwindest.
Damit drehte sie sich um und verschwand im Gebäude. Patricia und Ashley hatten mal wieder nichts gesagt oder getan. Wie immer waren sie zu unsicher, etwas könnte ihrer Anführerin nicht passen, also eilten sie nur orientierungslos hinter Alicia her. Ich lachte in mich hinein. Die drei waren giftig, keine Frage, aber ungefährlich. Zumindest für mich. Ich hielt mich mittlerweile nicht mehr daran auf, wenn ich etwas von meine Mitschülern abbekam. Das war nun mal das Schicksal von Kids wie mir, die den größten Teil ihres Lebens allein und auf sich gestellt sind. Ich wurde schon vieles genannt: der Außenseiter, der Eine, der nie dabei ist, der Creep, dieser cringe Typ oder auch Weirdo. Ich könnte diese Liste ewig weiter führen, ich bin aber inzwischen an einem Punkt angelangt, an dem ich diese Bezeichnungen nicht mehr an mich ran lasse. Mich nicht mehr davon verletzen lasse. Wenn sie wüssten, was ich weiß, würden sie verstehen, weshalb ich vorzüglich dunkel trage und mich niemandem anvertraue. Weshalb ich lieber alleine stehe und warum ich kaum mehr auf mein Umfeld reagiere.
Mit einem schmalen Lächeln auf den Lippen setzte ich mich in Bewegung und machte mich auf den Weg zu einem scheinbar ganz normalen ersten Schultag. Hätte ich gewusst, was mich in diesem Gebäude erwarten, hätte ich mich wahrscheinlich umgedreht und wäre nie wieder gekommen...
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Mortemtale
Dla nastolatkówDie Geschichte handelt von einer Kleinstadt, deren Bewohner geleitet von Egoismus und Habgier Verbrechen begehen, die sie vielleicht wieder bereuen werden. Im Mittelpunkt stehen ein misstrauischer Junge mit komplizierten Lebensumständen sowie ein gu...