Kapitel 6

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Während der Pause, die ja ohnehin bald vorbei war, verdrückte ich mich in der dunkelsten Ecke des gesamten Schulgeländes: Im Chemiekeller. Beziehungsweise davor. Da dort zum Teil gefährliche kleine Mittelchen aufbewahrt wurden, konnte man den Raum zwar meistens betreten, die Schränke aber nur mit dem richtigen Schlüssel öffnen.

Ich hockte also in Gesellschaft einer fetten Kellerspinne vor der schwarzen Tür zur Chemiesammlung und versank in Gedanken, als ich plötzlich Schritte vernahm. Gott, hoffentlich nicht schon wieder Brad und seine Footballer. Die konnten mir ehrlich gestohlen bleiben. Zu meiner Überraschung war es die neue Schülerin Lillith. Als sie zögernd vor mir stehen blieb, fiel mir erneut auf, wie winzig sie eigentlich war.

Alex: Was willst du?

Lillith: Tut mir leid, ich möchte dich nicht stören. Ich wollte dir nur sagen, dass ich Mr. Everlanes Verhalten sehr unpassend und gemein fand. Ein Lehrer sollte seine Schüler nicht so behandeln. Ich werde mit dem Principal darüber sprechen, damit so etwas nicht nochmal vorkommt.

Sie wollte was? Ich konnte nicht anders als lauthals loszulachen. Und dabei kannte sie die Geschichte von nach dem Unterricht noch gar nicht.

Alex: Du willst mit Principal Scelus über Mr. Everlanes Verhalten mir gegenüber reden? Du scheinst es echt nicht verstehen zu wollen, was?

Verwirrt blickte sie mich an.

Alex: Die da oben interessieren sich nen Dreck für Schüler wie mich. Egal wie oft du dich beschwerst, daran wird sich auch nichts ändern.

Ich genoss für einen Augenblick ihren verständnislosen Gesichtsausdruck.  Sie öffnete den Mund, sagte aber kein Wort. Natürlich nicht. Was hätte sie auch erwidern sollen?

L: Das... ist nicht wahr.

Verzweifelt lachte sie. Bei ihrem Anblick musste ich unwillkürlich grinsen.

A: Doch, ist es. Wenn du mich entschuldigst, wir haben jetzt Chemie und ich für meinen Teil möchte diese beiden Stunden nur noch schnellstmöglich hinter mich bringen.

Damit stand ich auf und ließ sie einfach stehen. Sollte sie sich eben um die Spinne kümmern.

Unser Chemieraum war im Vergleich zu den anderen Räumen der Schule in erstaunlich gutem Zustand. Die Tische hatten weder Löcher, noch irgendwelche Kritzeleien und die Tafel wurde erst in den Sommerferien gegen eine neue ausgetauscht. Unsere Chemielehrerin Ms. Carbon gehört zum Glück zu den wenigen Lehrern, die mich wenigstens akzeptierten, tolerierten und mich nicht wie einen Sozialfall behandelten.

Wir begannen natürlich zuerst mit Organisatorischem, gingen dann über zu einem Versuch in Gruppenarbeit. Wie ich das hasste. Es gab absolut niemanden mit dem ich gerne zusammenarbeiten würde oder der gerne mit mir zusammenarbeiten würde. Ms. Carbon wusste das, letztes Jahr half Sie mir ab und an aus der Patsche. So auch heute .

Ms. Carbon: Alex, wärst du so lieb und würdest bitte noch die Ethansäure aus der Sammlung holen gehen? Die habe ich heute leider bei der Unterrichtsvorbereitung vergessen.

Alex: Natürlich, Ms. Carbon.

Ich dankte ihr still. Das würde zwar nicht für die ganze Doppelstunde reichen, aber so konnte ich wenigstens später zu irgendeiner Gruppe dazu und musste einfach nur dabeisitzen, vielleicht mitschreiben. Also ging ich vor ans Pult, holte mir die Schlüssel ab und machte mich auf den Weg zurück in Richtung Keller. Ob die Spinne wohl immer noch da war? Manchmal wünschte ich, mein Leben wäre so einfach wie ihres. Tagsüber schlafen, nachts nach Nahrung und einem Unterschlupf suchen. Mit dem Lebenssinn, dass ich mich irgendwann dann fortpflanzen würde und bald darauf sterben. Vielleicht etwas trostlos und langweilig, dafür musste man sich nicht mit gewalttätigen Lehrern, brutalen Footballern und mit enttäuschten Eltern herumschlagen. Wie entspannend das sein musste. Ich kam allerdings bald, wie so oft, zu dem Entschluss, dass es keinen Sinn hatte über ein besseres Leben als etwas oder jemand anderes nachzudenken. Wir können schließlich eh nichts daran ändern, wer wir sind.

Bei der Tür angekommen fiel mir zuerst auf, dass diese bereits offen stand. Die Chemielehrer ließen diese manchmal offen stehen, für die Putzfrauen oder so. Nach dem Eintreten bemerkte ich aber sofort, dass auch die Türen zu einigen Schränken offen standen. Eigenartig, in den Schränken waren teilweise echt gefährliche Chemikalien. Kein Chemielehrer würde die einfach so offen lassen. Just in diesem Augenblick erschrillte ein äußerst hoher Ton durch die Lautsprecher, begleitet von einer Stimme, die verkündete:

Begeben Sie sich bitte alle langsam und geordnet aus dem Schulgebäude. Dies ist kein Test. Brechen Sie nicht in Panik aus. Alle Schüler begeben sich unverzüglich in die Turnhalle, die Lehrer versammeln sich bitte davor. Dies ist kein Test...

Was zur Hölle ist hier los? Ein Feueralarm? Nein, der Ton hörte sich anders an und dazu die Durchsage. Ich blieb ruhig, sollte aber wohl auch besser raus in die Turnhalle. Doch zu meinem Erschrecken war die Tür hinaus in den Flur verschlossen. Wie war das möglich? Ich hatte sie hundertprozentig vorhin offen stehen lassen und die Tür war so massiv, dass sie eigentlich nicht hätte zu fallen dürfen. Ich versuchte die Tür mit dem Schlüssel zu öffnen und das Schloss knackte, die Tür ließ aber um keinen Millimeter verschieben. Mein Verdacht bestätigte sich: Jemand hatte mich absichtlich eingeschlossen. Derjenige musste etwas ziemlich Schweres vor die Tür geschoben haben. Ich verfluchte mich mal wieder, dass ich ziemlich schwache Arme hatte. Ob das vielleicht mit dem Drohbrief von heute morgen zusammenhing? Von wem war der? Wirklich von Alicia, wie ich es mir schon gedacht hatte? Aber dann hätte sie etwas alleine vor die Tür rücken müssen. Vielleicht zusammen mit ihren Freundinnen? Nein, das wäre zu auffällig gewesen, wenn alle gleichzeitig aus dem Chemieunterricht gegangen wären. Dann war es vermutlich Raggie oder ein anderer Footballer. Die hätten auf jeden Fall die Kraft dazu. Aber keiner von denen war bei mir in Chemie und hätte wissen können, dass ich hier unten bin...

Während meine Gedanken weiter um den möglichen Täter kreisten, fiel mir erst gar nicht auf, dass ich immer öfter anfing zu hüsteln. Nach einer Weile wurde das Kratzen in meiner Kehle jedoch stärker und ich bekam immer weniger Luft. Ich setzte mich hin und versuchte tief durchzuatmen. Es ging kaum. Mein Atem ging flach und stoßweise, mir schossen Tränen in die Augen. Ich ballte meine Fäuste, stand mit letzter Kraft auf und rüttelte an der Tür. Keine Chance. Panisch fiel ich auf die Knie. Das konnte doch nicht war sein. Ich legte mich hin. Okay, ruhig bleiben. Wie bekommt man am Besten Luft? Erste Hilfe, komm schon, erinnere dich, Alex! Stabile Seitenlage! Irgendwie legte ich mich auf die Seite und versuchte mich zu koordinieren. Gott, warum lernte man sowas immer nur an anderen Personen? Bei Anderen hat man einen viel besseren Überblick und ist im besten Fall nicht gerade selbst am Sterben. Ich fand schließlich eine Position, in der ich zumindest etwas besser atmen konnte. Trotzdem bekam ich kaum genug Luft. Was ist hier los verdammt? Hatte das alles was mit dem Alarm zu tun? Ein Gasalarm? Sowas hatte es noch nie bei uns gegeben. Röchelnd und hustend lag ich auf dem Boden. Wenn mich nicht bald jemand findet, weiß ich nicht ob ich das überlebe. Verdammt, ich will nicht sterben.

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