Kapitel 5

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Eine lebende Leiche.

Genau so konnte man unseren Lehrer für Wirtschaftspolitik, Mr. Everlane, beschreiben. Sein Kleidungsstil war ohne Zweifel fragwürdig: er schien sich immer die ältesten Klamotten aus seinem Kleiderschrank auszusuchen. Man konnte seine braune Cordhose und das verwaschene Hemd schon fast als antik bezeichnen. Zudem waren es, dem Anschein nach, immer die gleichen Stücke. Soweit ich weiß, hatte er das ganze letzte Jahr nichts anderes getragen. Bei mir war das zwar nicht anders, ich vermute aber stark, dass ein Verbeamteter ein wenig mehr Grundkapital, wie er es so schön nannte, als ein sozial unterdurchschnittlicher 16 jähriger Schüler zur Verfügung hatte. Seine Schuhe waren auch immer die gleichen alten, braunen Lederlatschen und durch die dicken Gläser seiner Hornbrille musterte er die Klasse misstrauisch. Sein Blick blieb an mir hängen. Ich erwiderte diesen starrsinnig, wie ich nun mal war. Ich wusste ganz  genau ,was er dachte. Wieso waren alle in meinem Umfeld eigentlich so durchschaubar? Als ich mich nach einer kleinen Ewigkeit nach hinten lehnte, ohne den Blickkontakt abzubrechen, schien er sich daran zu erinnern, dass er auch noch andere Schüler hatte.

Mr. Everlane: Herzlich willkommen in Wirtschaftspolitik. In diesem Fach lernen Sie die Marktwirtschaft kennen und wie in dieser gewinnsteigernd durch Beeinflussung der Politik Unternehmen gründen und gedeihen lassen können. Einige hier kenne ich schon, manche aber auch noch nicht. In diesem Fall könnte vielleicht ein Schüler den Stoff des letzten Jahres einmal kurz zusammenfassen. Mister Adams vielleicht?

Es war nicht überraschend, dass er mich aufgerufen hatte. Genauso wie er mein absoluter Lieblingslehrer war, schien ich anscheinend auch sein absoluter Lieblingsschüler zu sein.

Alex: Letztes Jahr haben wir gelernt, dass sich unser hart erarbeitetes Geld stets sinnlos in Kreisen bewegt, die Ausbeutung von Entwicklungsländern gewinnsteigernder, rentabler und damit besser ist als nachhaltige und lokale Produktion, Kunden von Unternehmen schamlos das Geld aus den Taschen gezogen wird, sobald ein Produkt etwas begehrter ist, und die Sozialhilfen unseres Landes die nahezu schlechtesten weltweit sind.

Es herrschte eine Totenstille im Raum, denn alle mussten erstmal verarbeiten, was ich gerade gesagt hatte. Tja, da ist der liebe Mr. Everlane selbst Schuld, wenn er meint, mich willkürlich aufrufen zu müssen. Ich konnte sehen, dass er vor Wut kochte. Das würde Konsequenzen haben, da war ich mir sicher. Aber das war es mir wert gewesen, schon um meiner Mitschüler Willen. Es brauchte noch einige Augenblicke, bis er wieder zu Wort kam.

Mr. Everlane: Letzteres scheinst du ja anscheinend an eigenem Leib zu erfahren, Alex. Komm nach der Stunde bitte zu mir.

Das dämliche Kichern der Klasse, das vor allem von Alicia ausging, ignorierte ich gekonnt. Ich war schließlich nicht das erste Mal in so einer Situation. Es sollte aber auch nicht das letzte Mal gewesen sein.

Nach einer unheimlich langen Stunde, die ich glücklicherweise ohne weitere Zwischenfälle überstehen konnte, packte ich meinen Rucksack. Immerhin hatte ich während der Stunde erfahren, dass die Neue, sie hieß wohl Lillith, Klassensprecherin geworden war. Mich verwunderte das mich nicht, diese Tatsache erklärte zumindest ein Stück weit, weshalb sie sich so verzweifelt an die Regeln geklammert hatte.

Die Schüler verließen den Raum, ich blieb am Pult stehen. Mr. Everlane musterte mich mit seinem allzeit strengen Blick. Ich fragte mich, wie lange seine Predigt wohl dauern würde.

Mr. Everlane: Ich habe absolut keine Ahnung, weshalb du noch in meiner Klasse oder überhaupt auf dieser Schule bist. Aber du wirst mir jetzt ganz genau zuhören: wenn so etwas wie heute noch einmal vorkommen sollte, dann fliegst du schneller von der Schule als du Football sagen kannst, und ich werde dann auch dafür sorgen, dass diese Anordnung endgültig ist.

Ich sah ihn abschätzend an und sagte nichts. Ich wusste genau, dass es ihn wahnsinnig machte, wenn man nicht auf seine Drohungen reagierte. Und es passierte, was passieren musste. Das, womit ich schon gerechnet hatte und worauf ich die ganze Zeit nur noch gewartet hatte. Wenn er gewusst hätte, dass ich in der Magengegend sowieso schon nichts mehr spürte, hätte er sicher wo anders hingezielt. Also echt, dass an dieser Schule immer alles körperlich geklärt werden musste. Zu meinem Glück hatte er aber keine Ahnung, dass er heute nicht der Erste war. Ich hörte ein Klatschen und meine rechte Wange fing an zu glühen.

Mr. Everlane: Hast du mich verstanden, Junge?

Es war ein merkwürdiger Anblick wie er so vor mir stand, sich aufbauend und nahezu schäumend. Ich fragte mich ob seine psychische Instabilität der Grund war, warum er single war und es auch immer sein würde. Vielleicht hatte er auch private Ängste oder Aggressionen, die er nirgendwo anders auslassen konnte. Vielleicht Existenzangst, weil niemand ihn wollte. Naja, mein Mitleid konnte er dafür schonmal nicht erwarten. Ich hatte auch niemanden und prügelte mich nicht dauerhaft. Naja... nur, wenn ich absolut keine andere Wahl hatte. Dann verlor ich meistens auch, aber so ist das nun mal.

Mr Everlane: Ob du mich verstanden hast?!

„Ja, natürlich Mr. Everlane ",
antwortete ich grinsend, wofür ich mir direkt noch einmal „Eine einfing" , wie mein Vater gerne zu sagen pflegte.

Ich verließ schweigend den Raum. Ich denke, jeder kann jetzt nachvollziehen, warum Wirtschaftspolitik nicht unbedingt mein Lieblingsfach ist. Wie immer streiften mich heimliche Blicke, als ich durch den Gang lief. Ich konnte ihre Augen förmlich in meinem Rücken spüren. Hoffentlich dachten sie sich wenigstens eine gute Geschichte aus und nicht so einen Bullshit wie sonst immer.

Ich will nicht lügen, der Tag lief wirklich mies bis dahin.

Doch niemand , nicht einmal ich, konnte ahnen, dass das nichts im Vergleich dazu war, was heute noch alles auf uns zukommen würde.

MortemtaleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt