Die abendliche Stille

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Als ich aufwachte war es dunkel. Immer noch befand ich mich im Zimmer des Mannes, der Loki hieß. Ein befremdlicher Name. Ich fühlte mich um einiges besser. Kraftvoller, ausgeruhter und stärker. Loki befand sich nicht im Zimmer. Ob er zwischendurch zurückgekommen war und wieder gegangen war konnte ich nicht beurteilen. Nichts deutete darauf hin. Ich schlug die Bettdecke auf und setzte meine beiden Beine auf den Boden. Nach ein paar Schritten stellte ich fest, dass ich wieder genügend Kraft zum Laufen hatte. Noch einmal würde ich nicht fallen. Ich verließ das Gästezimmer und ging die Treppe runter in die Erdgeschosswohnung. Als ich eintrat war sie leer. Mein Großonkel war vermutlich einkaufen. Ich war über einen Tag lang nicht hier gewesen. Auch konnte ich meine Schicht nicht antreten. Wie konnte ich ihm das nur erklären. Ich konnte ihm nicht die Wahrheit erzählen, die würde Konsequenzen mit sich bringen, die ich umgehen will. Aber erst einmal sollte ich mich umziehen. In Pulli und Badeanzug konnte ich schlecht bleiben. Außerdem benötigte ich dringend eine Dusche. Ich verschwand in meinem Zimmer und zog mir meine Kleidung aus. Ich legte beide Stücke in den Wäschekorb neben mir und ging zu meinem Schrank hinüber. Dass ich nackt durch mein Zimmer lief störte mich nicht. Ich mochte meine natürliche Aufmachung sowieso am meisten. Meinem Schrank entnahm ich eine lockere, weiße Stoffhose und einen sandfarbenen, gestrickten Rollkragenpullover. Nach der Kälte in der See, die mir immer noch in den Knochen steckte, brauchte ich etwas warmes. Ich packte mir noch ein Handtuch und ging in die Dusche. Das warme Wasser entspannte mich, befreite meinen Geist. Ich verbachte viel mehr Zeit in der Dusche als sonst. Während das heiße Wasser meinen Rücken runter prasselte musste ich an Loki denken. Ein merkwürdiger Mann, dem ich mein Leben zu verdanken hatte. Ich wusste wirklich nicht was ich von ihm halten sollte. Aber er war anders. Fragen die ich von ihm erwartet hatte wurden nie ausgesprochen. Fragen wie „Warum warst du bei dem Wetter im Meer?" „Bist du lebensmüde?" Stattdessen schien er mich irgendwie verstanden zu haben. Aber irgendwie auch nicht. Irgendetwas an diesem Mann war besonders, etwas das ich wahrscheinlich nie verstehen werde. Nachdem meine Haut schon schrumplig wurde verließ ich die Dusche und zog mich an. Ich hieß den weichen Stoff auf meiner Haut willkommen. Er hielt mich geborgen und täuscht meine Wahrnehmung der Welt. Eine willkommene Illusion. Als ich aus dem Bad austrat stand mein Großonkel vor mir. Verdammt, ich hatte mir noch keine Ausrede ausgedacht. „Tut mir leid dass ich gestern weg war. Aber meine alte Freundin Luise brauchte Trost, ihr Mann ist verstorben. Ich hoffe es lief alles gut während ich weg war? Wir haben momentan ja nur einen Gast. Den jungen Herrn hast du ja bestimmt kennen gelernt." Manchmal gab es doch Momente im Leben, wo ich die Existenz eines Allmächtigen Gottes nicht anzweifelte. „Jaja, alles lief bestens.", antwortete ich erleichtert. „Das ist toll. Dann mache ich mich mal an meine Arbeit, vergiss deine Schicht in zwei Stunden nicht." „Werde ich nicht." Mein Großonkel lächelte mich noch einmal an und verschwand dann in seinem Büro neben der Küche. Ich seufzte auf. Das lief überraschender Weise gut. Jetzt musste ich nur noch Loki von dieser Version der Wahrheit erzählen und hoffen, dass er mich decken würde. Sonst würde alles hier in die Luft fliegen und das will ich mir nicht einmal vorstellen. Ich hoffe Loki war mittlerweile in sein Zimmer zurück gekehrt. Wir mussten reden. Ich eilte durch die Tür in den Flur, hinauf zum Gästezimmer am Ende des Flures. Ich klopfte vorsichtig an, doch nichts geschah. Ich klopfte ein weiteres Mal an, doch immer noch begegnete mir nur Stille. Ich versuchte die Türklinke herunter zu drücken und tatsächlich war die Tür immer noch offen. Ich trat in den Raum ein, diesmal auf meinen eigenen zwei Füßen, und fand ihn so vor wie ich ihn verlassen hatte. Leer. Er war wohl immer noch nicht zurück gekehrt. Verdammt. Wo könnte er nur sein? Schnell verließ ich wieder sein Zimmer und trat aus der Pension. War er nicht in der Pension, so musste er außerhalb sein. Außerdem war seine schwarze Ledertasche noch im Zimmer, er konnte also nicht schon abgereist sein. Die Dunkelheit der Nacht empfing mich. Es war sehr frisch geworden, doch zum Glück hatte ich meinen Rollkragenpullover ausgewählt. Die Sterne und die Mondsichel erhellte etwas die Nacht, doch das Meer konnte man trotzdem nur rauschen hören und nicht Wellen schlagen sehen. Ich nahm den Pfad zum Strand. Keine Menschenseele begegnete mir auf dem Weg. Der Weg selbst war aus alten Steinen bepflastert, weswegen es sich etwas holprig lief. Er mündete am Strandbeginn, an dem rechts und links gemauerte, niedrige Mauern den Strand begleiteten. Sie sollten Fluten aufhalten können. Doch ich bezweifelte das. Als ich mich dem Ende des Weges näherte, erkannte ich tatsächlich eine dunkle Gestalt auf den niedrigen Mauern links neben dem Wegende sitzen. Je näher ich trat, desto deutlicher wurde die in Dunkelheit gehüllte Silhouette. Nachdem ich nur noch zwei Meter entfernt war konnte ich die langen, dunklen Haare erkennen, die der Nacht sehr ähnlich waren. Es war tatsächlich Loki. „Hey", sagte ich und er drehte sich um. Loki blickte mir direkt in die Augen und ein kalter Schauer erfasste mich.

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