Die See und Er

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Ich hatte es gestern gerade noch pünktlich wieder in die Pension geschafft. Aber im Nachhinein hätte ich mich gar nicht beeilen müssen. Denn Loki war ja unser einziger Gast, weswegen ich nur eine leere Pension antraf. Stundenlang stand ich alleine hinter unserem Tresen. Um halb eins kam Loki zurück, lächelte mir kurz zu und verschwand nach oben in sein Zimmer. Danach passierte wieder nichts. An solchen Abenden fragte ich mich immer warum jemand am Tresen Schicht schieben musste. Aber mein Großonkel hatte immer die Hoffnung, dass ein Gast zufällig nachts in unserer Pension eine Unterkunft bräuchte. Natürlich ist das noch nie passiert, aber wie bekanntlich stirbt die Hoffnung zuletzt. Gerade zog ich mir meinen Bikini an. Mein Badeanzug war noch in der Wäsche. Außerdem trug er schlechte Erinnerungen. Um ehrlich zu sein hatte ich mich entscheiden bei so Wetter nicht wieder raus zu gehen. Doch nach 10 Minuten des restlosen Hin- und Her wälzen auf dem Sofa hatte ich mich entschieden doch etwas schwimmen zu gehen. Obwohl das Gefühl des Ertrinken noch lebendig in meinen Knochen saß konnte ich zugleich nicht die Taubheit, das Schlagen der Wellen gegen meinen Körper und das Gefühl von Freiheit vergessen, welche ich in so vielen Morgenstunden erlebt hatte. Ich musste es einfach wieder erleben. Wie jeden Morgen, bis vor jenem Tag, ging ich den Pfad zum Strand runter. Den gleichen Weg, der mich gestern zu Loki geführt hatte. Diesmal saß er aber nicht auf der Mauer.
Sie und der Strand waren wie immer um diese Uhrzeit und bei diesem Wetter leer gefegt. Langsam, Schritt für Schritt, ging ich Richtung Meer. Wie immer hieß mich die kalte Seeluft willkommen, die Wellen rauschten, der Sand knirschte und irgendwo im Hintergrund konnte ich das Kreischen einer Möwe wahrnehmen. Als das kalte Meerwasser meine Füße empfing fühlte ich keine Furcht. Genau wie damals als ich fast ertrank. Ich hatte im Leben gelernt Dinge zu akzeptieren, sie nicht mehr zu hinterfragen und sie einfach anzunehmen. Zu viel Umstände bereitete der Widerstand. Meine Beine bewegten sich immer tiefer ins Wasser bis das Wasser meine Hüften umfingen. Denn genau in diesem Moment hörte ich etwas. Ich wusste nicht was es war, denn die Wellen waren zu laut. Ich blieb stehen und horchte. Jemand rief nach mir. Ich meinte meinen Namen zu hören. Schnell drehte ich mich um und suchte nach der Quelle des Rufes. Und da sah ich ihn. Loki, in Badehose, der auf das Meer oder vielmehr auf mich zu lief. Was machte er so früh am Morgen am Strand? Hatte er die selbe Idee wie ich gehabt? Ich wartete auf ihn, sah wie er die ersten Berührungen mit dem Meerwasser machte und Schritt für Schritt auf mich zukam. Je näher er mir kam, desto langsamer wurde er bis er schlussendlich vor mir stehen blieb. Sein Blick hatte etwas vorwurfsvolles an sich. „Ich verspüre wenig Lust dich nochmal zu retten." Damit hatte ich nicht gerechnet. Ich befand mich doch gar nicht in Gefahr. Außerdem woher wusste er überhaupt, dass ich schwimmen war? „Ich auch und zum Glück wirst du das auch nicht müssen.", antwortete ich ihm verbissen. So sehr ich mich ihm gestern verbunden gefühlt hatte, jemand, der sich in meine Angelegenheiten mischte, konnte ich überhaupt nicht ausstehen. Er seufzte und guckte auf mich hinunter. „Ich will dich ja nicht vom Schwimmen gehen abhalten. Tu was immer dir beliebt. Aber bitte gehe nicht alleine." Damit hatte ich nicht gerechnet. Er wollte mir nichts, wie ein unnützer großer Bruder verbieten, stattdessen unterstützte er mich in dem was ich tat. Und sorgte sich dabei um mich. Er schien mich wirklich zu mögen. Gestern dachte ich, er habe es nur dahin gesagt. „Es geht mir gut, danke." Wieder schien sein Blick vorwurfsvoll. Ihm schien wohl nicht zu gefallen was ich von mir gab. „Wäre es denn so schlimm mit mir zusammen ins Meer zu gehen?" Darauf hatte ich keine Antwort. Denn ich hatte darüber nicht einmal ansatzweise nachgedacht. Ich hätte nie damit gerechnet, dass er so etwas überhaupt irgendwem anbieten würde. „Was? Ne, also, keine Ahnung, also, ich habe kein Problem so, aber, weißt du, daran hatte ich nicht gedacht, weil ich halt immer allein bin", stammelte ich die Wortfetzen aus meinem Mund. „Das kenn ich", lächelte er mich traurig an. Es schien wieder alles gut zwischen uns. Erst jetzt bemerkte ich, dass er wirklich nur in Badehose vor mir stand. Obwohl er in derselben Wassertiefe wie ich stand, ragte noch ein Teil seiner Hüfte aus dem Wasser. Er trug eine Badehose, deren dunkelgrüne Farbe schon fast ins Schwarze reichte, die ihm locker auf den Hüften saß. Seiner Badehose folgte sein blasser, athletischer Oberkörper. Durch seine dünne Haut zeichneten sich die einzelnen Muskelstränge ab und sein schlanker Oberkörper ließ ihn noch größer wirken als er ohnehin schon war. Die Tage zuvor konnte ich seinen Leib stets nur durch ein weißes Hemd erahnen. Seine schwarzen, langen Haare waren noch trocken und der Seewind wehte seine Locken hin und her, sodass sie ihm immer wieder ins Gesicht fielen. „Kannst du denn überhaupt schwimmen, Loki?", neckte ich ihn und grinste ihn provozierend an. Während ich sprach ginge ich langsam rückwärts tiefer ins Meer hinein und ließ meinen Blick auf seinem Gesicht ruhen. Sofort grinste er und folgte mir langsam. „Die Frage sollte mir nicht die Person stellen, die ich vorm Ertrinken gerettet habe." Ich lachte nur. „Das hatte ja nichts mit Schwimmen zu tun. Normalerweise bin ich praktisch eine Meerjungfrau." Er gab einen zustimmenden Laut.

„Das wollen wir ja mal sehen." Plötzlich hechtete er auf mich zu. Er war zu schnell um zu entkommen. Ich versuchte es aber trotzdem und rannte, ihm dem Rücken zugewandt, tiefer ins Meer. Auf einmal packte mich etwas an meiner Taille und hob mich aus dem Wasser. Ich rollte meinen Körper zusammen, schrie laut auf und konnte im Hintergrund Lokis laute Lache wahrnehmen. „Lass mich sofort runter, Loki!", schrie ich ihn lachend an, da er mich leicht kitzelte. „Wenn du unbedingt willst" und ließ mich laut ins Wasser platschen. Ich war wieder von Wasser umgeben und die Erinnerung an jenen Morgen kam hoch. Panik kam in mir hoch und ich strampelte wie damals mit den Armen, doch diesmal wurde ich aus den Fängen des Wassers früher befreit. Loki hatte mich schnell gepackt und wieder über Wasser gebracht. Die Panik war immer noch lebendig in mir, meine Atmung deshalb unregelmäßig und meine Augen weit aufgerissen. Ich hatte Angst. Doch dieses Mal akzeptierte ich nicht die Angst gleichgültig. Ich wehrte mich gegen sie, lebte sie aus. Und zwar weil ich dieses Mal nicht alleine war. Loki hatte seine Arme fest um mich geschlossen und hielt mich sicher an seiner Brust. „Alles ist gut, ich bin da."

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