SECHS

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Zija weckte mich am nächsten Morgen noch vor dem Sonnenaufgang, was ich ihr wirklich übel nahm, bis sie mir erzählte, dass der König uns sehen wolle.

Nachdem ich nach einigem Tasten meine Brille gefunden und aufgesetzt hatte, stand ich auf und ließ mir von Zija frische Kleidung geben. Gekleidet in ein schlichtes weißes Leinenhemd und eine braune Hose ging ich mit Zija den endlos langen Gang entlang, den wir schon gestern durchqueren mussten. Ich sah schon den Durchgang zur Eingangshalle, als sie vor einer doppelflügligen, reich verzierten Tür stoppte. Sie klopfte und öffnete erst auf das "Herein!"

Die Schwarzhaarige ging zuerst rein, ich folgte. Während Zija den König begrüßte (mitsamt Knicks und "Guten Morgen, Majestät."), sah ich mich um. Der Raum war mit hellem Holz vertäfelt, der Boden bestand aus eiskaltem, grauen Stein. Von der Decke hing ein großer Lüster und ein langer Tisch stand in der Mitte des Zimmer. An diesem saß nur ein älterer Mann mit langem grauen Haar und den selben Punkten unter den Augen, die auch Zija hatte. Er war in einen blauen Mantel gehüllt und vor ihm stand ein Teller mit Brot und Obst neben einem goldenen Kelch.

Das war also König Byren. Seine eisblauen Augen musterten mich ebenso, wie ich ihn gemustert hatte. "Zija, wen hast du da mitgebracht?" Seine Stimme war unterkühlt und seine Augenbrauen abschätzig nach oben gezogen. "Baylee Chamberlain. Ich habe sie im Weißwald in der Nähe von Bems Klamm gefunden." Das schien das Interesse des Königs geweckt zu haben, denn er beugte sich vor und musterte mich erneut.

"Soso. In der Nähe von Bems Klamm. Sprich, Mädchen, kennst du einen Ort namens Coldfoot?" Überrascht nickte ich. Ein schwaches Lächeln umspielte Byrens schmale Lippen. "Nun, Zija, neben dir steht ein Mädchen aus der Menschenwelt." Mit zusammengezogenen Augenbrauen sah ich den König verwirrt an. "Wenn ihr keine Menschen seid, was seid ihr dann?", rutschte es mir heraus. Er grinste mich an. "Wir nennen uns Livaden. Aber bevor ich dich mit allen Informationen über uns überflute, solltet ihr essen." Er deutete auf die beiden leeren Stühle am Tisch.

Ich kam seiner Aufforderung nach, doch Zija blieb stehen. Als ich zu ihr hinüber sah, erstaunte mich ihr Gesichtsausdruck: Ihre Augenbrauen waren zusammengezogen, die Lippen verkniffen und ihre Gesichtszüge hart. "Ich habe keinen Hunger. Wenn Ihr mich entschuldigt." König Byren nickte und Zija verließ das Zimmer so schnell es ging. "Was soll ich bloß mit ihr machen?", hörte ich ihn murmeln, doch da ich sicher war, dass es nicht für meine Ohren bestimmt gewesen war, ging ich nicht darauf ein.

"Also Baylee Chamberlain: Du weißt nichts über Livaden, Leaodor und Teasilh?" Verwirrt blinzelte ich und schüttelte den Kopf. Der König nickte nachdenklich und strich sich mit den Fingern über das Kinn. "Das habe ich mir gedacht. Wo fange ich an ...? Mein Land heißt Teasilh und wurde vor fast dreihundert Jahren gegründet. Im Volksmund heißt es nur "Winterlande". Mein Volk, die Eis-Livaden, stammen von-", er unterbrach sich selbst und lächelte, "Ach, weißt du was? Iss erst einmal, wir reden später darüber."

Obwohl ich gern noch mehr erfahren hätte - besonders viel hatte er schließlich nicht erzählt -, nickte ich schweigend, weil mir beim Anblick des frischen Brotes vor mir das Wasser im Mund zusammen. Ich nahm mir also eine Scheibe und biss ein trockenes Stück ab. Es schmeckte sehr süß und war leicht matschig, zerging mir aber auf der Zunge wie Honig. "Was ist das?", fragte ich schmatzend, ehe ich mir meiner Manieren bewusst wurde und errötete.

Byren lachte und antwortete: "Desylosfrüchtebrot. Diese Früchte wachsen nur in Teasilh." Der Stolz war deutlich aus seiner Stimme herauszuhören. Ich lächelte ihn an und wandte mich dann wieder dem Brot zu.

WinterblumeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt