NEUN

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Es dauerte nicht halb so lange, wie ich dachte. Die Tür gegenüber des Sofas flog auf und Zija stürmte in den Raum. Zu meinem Entsetzen konnte ich Tränen auf ihren Wangen sehen.

"Was ist passiert?", fragte ich bestürzt und sprang auf. Schluchzend fiel sie in meine ausgebreiteten Arme und begann hemmungslos zu weinen. Ich drückte sie fest an mich und wartete, bis sie sich wieder halbwegs beruhigt hatte. "Was ist passiert?", fragte ich noch einmal, während ich sie auf Armlänge von mir hielt, um ihr in die tränenverschleierten Augen sehen zu können.

"Das kann ich dir nicht sagen", murmelte sie und wischte sich mit dem Handrücken über die Wangen. Ich presste nachdenklich die Lippen aufeinander, musste mich aber geschlagen geben. Wenn sie nicht darüber reden wollte, oder konnte, dann konnte ich daran nichts ändern.

Ich zog sie wieder an mich und umarmte sie noch einmal fest. Da kam ein Diener in den Raum und bat mich, mit ihm zu kommen. Entschuldigend strich ich Zija noch einmal über den Rücken, ehe ich dem Diener in ein etwas größeres Zimmer folgte. Darin stand ein wuchtiger Schreibtisch aus dunklem Holz, zwei Stühle und ein paar Bücherregale. Hinter dem Schreibtisch saß König Byren, welcher mich abwartend ansah.

Ich knickste unbeholfen und sah dann beschämt zu Boden. Mein Auftritt vom Morgen blieb unvergessen und ich wusste nicht recht, wie ich mich dafür entschuldigen sollte. Einerseits war mir das unglaublich peinlich, andererseits war ich der Meinung, dass jeder an meiner Stelle so reagiert hätte.

Unbehaglich scharrte ich mit meinen Füßen auf dem Boden, während ich mich räusperte. "Also ... es tut mir leid, was heute Morgen geschehen ist. Aber es war alles ... ein bisschen viel." Vorsichtig lugte ich zu ihm hoch. Er nickte nachdenklich. "Das verstehe ich. Man erfährt schließlich nicht alle Tage, dass man jemand anders ist, als man glaubte." Ich stimmte ihm erleichtert zu.

Kurz trat Stille ein, in der ich über Zija nachdachte. Sie war weinend aus diesem Zimmer gekommen und obwohl ich sie noch nicht lange kannte, war ich mir sicher, dass sie nicht besonders oft weinte. Was war vorgefallen? Bevor ich mich stoppen konnte, fragte ich: "Was ist hier gerade geschehen? Zija wirkte sehr ... aufgewühlt."

Eine Weile sah mich der König mit einem seltsamen Gesichtsausdruck schweigend an, bis er sich schließlich seufzend mit der Hand über das Gesicht fuhr.

"Das ist eine lange Geschichte und um es zu verstehen, muss ich ganz vorne anfangen. Bist du sicher, dass ich dir davon erzählen soll?" Er sah mich zweifelnd an, aber ich nickte entschlossen. Ich wollte um jeden Preis mehr von dem Volk erfahren, zu dem ich jetzt anscheinend gehörte.

"Also gut. Die Livaden, von denen es zwei Gruppen gibt, die Eis-Livaden und die Blumen-Livaden, stammen von einer Frau namens Liva ab. Nun ja, nicht direkt von ihr. Sie lebte vor mehreren hundert Jahren und hatte eine besondere Naturverbundenheit. Der Legende nach pflanzte sie eines Tages zwei Blumen. Die eine wuchs im Sonnenschein, doch die andere wurde von einer Wolke beschattet und wuchs in Dunkelheit. Diese Dunkelheit ließ Kälte über die Blume hereinkommen, weshalb sie gefror. Dennoch wuchs sie weiter."

Er lächelte leicht.

"Und als Liva ihre Blumen das nächste Mal besuchte, saßen sowohl neben der Sommer- als auch neben der Winterblume kleine Kinder. Denn aus dem Trieben, welche die Blumen gebildet hatten, waren eben diese Kinder geschlüpft. Die Kinder der Sommerblume hatten braune und rote Haare sowie grüne oder braune Augen. Die Kinder der Winterblume hingegen waren blond oder schwarzhaarig und hatten blaue oder graue Augen. Daran kann man die Livaden noch heute unterscheiden. Jedenfalls herrschte zu Livas Lebzeiten Krieg in der Welt der Menschen, weshalb sie beschloss, die Kinder fernab der Menschen aufzuziehen. Eines Tages jedoch wurde sie gefunden und umgebracht. Im letzten Moment bevor sie starb, sprach sie einen Bann aus, der das Reich der Livaden von dem der Menschen trennte und somit beschützte. Kein Mensch hatte Zugang zu unserem Land. Eine Zeit lang lebten die Livaden friedlich miteinander, vor allem, um das Andenken Livas nicht zu beschmutzen. Doch die Unterschiede waren zu groß, die Eis-Livaden sehnten sich nach Kälte und zogen in den eisigen Norden, während die Blumen-Livaden an die Küste übersiedelten. Der Platz, an dem die beiden Blumen wachsen, ist noch immer eine Gedenkstätte Livas, wird Blumenhain genannt und gehört weder zu Teasilh noch zu Leaodor. Deshalb herrscht dort auch weder Sommer noch Winter."

Byren machte eine kleine Pause, ehe er fort fuhr: "Eigentlich war alles perfekt, doch einhundert Jahre nach der Pflanzung der Blumen schmolz das Eis im Norden und das Meer überflutete die Küsten. Die Livaden flohen zum Blumenhain, wo sie in einem Fels eine Inschrift fanden. Diese besagte, dass alle einhundert Jahre ein Kind der Sommerblume ein Kind der Winterblume heiraten müsse, damit unsere gesamte Welt nicht untergehe. Also wurden zwei junge Livaden verheiratet und alles normalisierte sich wieder. Das wurde über die Jahrhunderte hinweg fortgeführt, damit so etwas nie geschehe."

Ein Moment der Stille trat ein, in dem ich die Informationen ordnete und verdaute. Schließlich fragte ich: "Und was hat das alles mit Zija zu tun?"

König Byren seufzte erneut. "Der Tradition nach müssen Mitglieder der Königsfamilien verheiratet werden. Ich habe nur meine Tochter Asnyxia und diese ist unfruchtbar. Die Ehe muss aber nicht nur geschlossen, sondern auch vollzogen werden. Zija ist die nächste Verwandte, deswegen muss sie Asnyxias Platz einnehmen."

WinterblumeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt