Dilaras kleine Schwester

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⚠️ Triggerwarnung: Tod

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»Wartet jemand auf dich?«

Ich war so in Gedanken, dass ich gar nicht mitbekommen hatte, dass Dilara aus dem Bad zurück war.

Ich schüttle den Kopf.

»Auf dich?«

»Nur meine kleine Schwester«

Sie kramt ihr Handy aus ihrer Handtasche und zeigt mir ein Foto. Ihre Schwester war mit Sicherheit 10 Jahre jünger als Dilara.

»Ist sie krank oder so?«, frage ich etwas vorsichtig und biss mir sofort auf die Unterlippe.

Dilara wendet den Kopf ab.

»Nun, es gab einen Behandlungsfehler. Sie hatte vor einigen Jahren eine Operation und dabei ist sie gestorben«

Stille.

Ich sage nichts.

»Sie war Vier einhalb Minuten tot. Dann haben die Ärzte es geschafft sie wiederzubeleben. Nun ja seit dem... sagen wir einfach sie ist nicht mehr die gleiche«

»Das tut mir leid«

»Ich bin alles, was sie noch hat. Unsere Mutter ist ein paar Monaten gestorben...«

»Und euer Vater?«

»Der hat sich aus dem Staub gemacht. Schon lange vor Ellys Operation«

»Also bist du ganz allein mit ihr? Deine Schwester wirkt nicht...«, beginne ich. Doch Dilara fällt mir sofort ins Wort.

»Nein, sie kann nicht für sich selbst sorgen. Ihr Gehirn hat durch den Sauerstoffmangel damals schwere Schäden erlitten. Sie liegt nur im Bett und jeder sagt, sie bekommt nicht viel von dem mit, was um sie herum passiert... Aber ich glaube schon, dass sie etwas merkt«

»Woran merkst du das?«

»Sie reagiert auf mich. Es gibt gute und schlechte Tage. Sie spricht nicht, aber ich sehe in ihren Augen, dass sie mehr von der Umgebung mitbekommt. Die Ärzte sagen, dass ihr Gehirn vom Körper abgetrennt ist. Es wurden wohl irgendwelche Nerven verletzt und das zentrale Nervensystem kommuniziert nicht mehr mit dem peripheren Nervensystem...«

Ich schaute sie etwas verwirrt an.

»entschuldigung, jetzt rede ich auch schon so ein Fachchinesisch wie Ellys Ärzte. Na ja es ist quasi einfach so, als sei sie gelähmt. Sie kann nur ihre Augen bewegen. Manchmal wenn ich mit ihr spreche, habe ich das Gefühl, sie versteht jedes Wort. Sie versucht, mit ihren Augen mit mir zu kommunizieren. Ich meine, mit uns... bevor unsere Mutter gestorben ist, hat sie jeden Tag Stunden an Ellys Bett verbracht. Die beiden haben fast schon so eine Art Sprache entwickelt. Sie haben über die Pupillen miteinander kommuniziert. Jeder hält mich für verrückt, wenn ich das sage... Du hältst mich für verrückt, wenn ich das sage....«

Dann sprang sie auf.

»Holy... das klingt echt gruselig. Ich mein, was ist denn, wenn deine Schwester wirklich das alles mitkriegt. Aber sie kann nichts sagen, nicht am Geschehen teilnehmen, sie ist einfach wie eine Puppe, die in einem Regal sitzt...«

»Ja und die dabei zusehen muss, wie andere über ihr Leben entscheiden. Der Nachlassverwalter meiner Mutter will ihre lebenserhaltenden Maßnahmen abstellen«

Ich schluckte.

»Nach dem Tod unserer Mutter wurde ein Vormund für Elly bestellt. Und er ist der Meinung, dass man sie nicht mehr retten kann, dass es keine Therapie für sie gibt, dass sie nichts mitbekommt von all dem weil sie schon lange innerlich tot ist und dass es nur Quälerei und Verschwendung von Krankenkassengeld ist, wenn man sie am Leben lässt. Aber verdammt noch mal, ich weiß, dass meine Schwester das alles mitkriegt«

»Kannst du das Sorgerecht nicht übernehmen? Du bist 25 und sie ist deine Schwester, wieso hat das Gericht einen Vormund bestellt?«

»Nun, sagen wir... ich habe keine besonders weiße Weste«, sagte sie.

»Du hast bitte was?«

»Ich darf nicht mal mehr nach Mexiko einreisen. Glaubst du wirklich, die schmeißen einen ohne Grund aus dem Land?«

»Ich hatte mich wirklich schon gefragt, was für ein Stempel im Reisepass einem die Einreise nach Mexiko verwehrt...«, sagte ich und lachte etwas gequält in der Hoffnung ich könnte die Stimmung aufheitern. Dilara wurde immer mysteriöser.

»Ich mein... ich kenn Stempel, mit denen es schwer wird nach Israel oder in die USA zu kommen. Aber Mexiko? Ich hab mich schon gefragt, ob du im Südsudan warst oder so...«

»Nach der Nummer im Flugzeug traust du mir wohl alles zu?«, antwortete Dilara und offensichtlich fühlte sie sich ein wenig geschmeichelt.

Ein Anruf unterbricht unser Gespräch.

Dilara nimmt das Telefonat an und verlässt den Raum zu Telefonieren.

Etwas verloren sitze ich auf dem Bett und schäme mich ein wenig für all die kleinen Probleme in meinem Leben, die täglich so viel Macht über mich haben, mir die Laune zu verderben. Alles wirkt auf einmal so klein, wenn man sich vorstellt, in einem Zustand der totalen Ohnmacht zu sein. Wenn man nur noch die Augen bewegen kann, alles mitbekommt und mit anhören muss, dass andere über Leben und Tod entscheiden und das alles nur, durch einen Behandlungsfehler.

»Ich muss das Paket jetzt abholen«.

Dilara reißt mich aus meinen Gedanken.

»Oh, du hast es noch nicht?«

Ich werfe einen Blick auf die Uhr. Es ist 00:45 Uhr. Definitiv zu spät für eine Übergabe.

»Nun.. also... es gab vorhin ein Problem. Deswegen war ich auch so schnell zurück... Ich muss jetzt aber los, ich habe schon ein Taxi bestellt...«

»Soll ich nicht mitkommen?«

»Nein, ich mach das lieber allein. Danke, aber... ich wäre jetzt gerne etwas allein«

Dann verlässt sie das Zimmer. Schlafen kann ich jetzt bestimmt nicht, also beschließe ich, Mo eine WhatsApp Nachricht zu schreiben.

»Hast du was zu Essen auftreiben können?«

»Boy, du hast aber lange gebraucht. Wenn ich auf dich gewartet hätte, wäre ich verhungert. Was hast du in der Zwischenzeit gemacht?«

Ich schicke ihm als Antwort nur eine Aubergine als Emoji gefolgt von ein paar Wassertropfen und schreibe dazu: »Ein Gentleman genießt und schweigt«

🍆💦😏


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⏰ Letzte Aktualisierung: Mar 10, 2021 ⏰

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