𝐕𝐈; 𝐬𝐢𝐱

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Cyril Snell

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Ein verächtliches Schnauben verlässt meinen Mund. Da läuft er. Arm in Arm mit seiner Freundin. Was ein abgekartetes Spiel! Dabei sollte ihm klar sein, dass er so nicht ewig weitermachen kann. Nicht ewig vor sich selbst – vor seinem wahren Ich – wegrennen kann. Nicht ewig unter dieser Maske als gleichgültiger, durchschnittlicher Bürger Englands versteckt sein kann.

Doch das scheint ihm wohl nicht bewusst zu sein. Nur mir ist das bewusst. Aber das auch nur aus dem Grund, dass ich vor etwa einem halben Jahr etwas mehr als nur freundschaftlich mit ihm zu tun hatte.

Im Nachhinein bereue ich es ziemlich, mich auf ihn eingelassen zu haben. Das hat nur seine und die Vorurteile seiner Freunde und Mitschüler unserer alten High School gegenüber Migranten gestärkt. Dabei dachte ich anfangs, dass er anders wäre, als alle anderen. Dass er nicht auf die Meinungen anderer hört und sich nicht auf dieses bodenständige Niveau herunterziehen lässt. Aber wie man sieht, kann man sich ja immer in anderen Personen irren.

Dabei habe ich ihn wirklich gemocht. Wirklich; und das meine ich auch so. Es schmerzt sogar schon fast, ihn jetzt mit dieser aufgesetzten Maske Arm in Arm mit seiner Freundin zu sehen. Und sofort kommt mir auch die Frage in den Sinn, ob andere Leute außer mir auch mal sein wahres Ich gesehen haben. Das Ich unter der Maske, hinter der er sich seit keiner Ahnung wie langer Zeit versteckt. Oder ob er es nur seinesgleichen zeigt.

Ich habe ihm mein Ich gezeigt. Alles was mich ausmacht, meine Vergangenheit und alles andere. Und irgendwann hat er seine Meinung anscheinend geändert. Zwar habe ich den Angstausdruck in seinen Augen gesehen – der nur so geschrien hat: bitte verrate nichts über mich und alles, was wir getan haben –, aber trotzdem ändert das nichts an der Tatsache, dass er mich letztendlich alleine gelassen hat, nachdem er mich mehr oder weniger ausgenutzt hat. Er hat die Informationen, die ich ihm vertraulich gegeben habe, über die Flucht meiner Eltern und mir aus unserem ursprünglichen Heimatland nach England und meiner Sexualität ausgenutzt und dann einfach gegen mich verwendet.

An sich war es sogar gar nicht so schlimm. Dass meine Familie und ich ursprünglich aus einem anderen Land kamen und von dort geflüchtet sind, als ich ungefähr drei Jahre alt war, ist nicht schlimm. Es ist auch kein allzu großes Geheimnis, denn jeder, der mich gut kennt weiß das eigentlich. Genauso wie meine Sexualität. Es ist kein großes Geheimnis, dass ich homosexuell bin. Und damit habe ich auch kein Problem. Zumindest fühle ich keinen Hass dagegen oder so. Es macht mich einfach aus. Es gehört zu meiner Persönlichkeit. Aber manche Menschen scheinen damit wohl ein Problem zu haben. So ein großes Problem, dass sie manche Menschen deswegen aufziehen und sich gegen sie verschwören.

Ich persönlich hätte auch sagen können, dass er homosexuell ist. Aber ich habe es nicht getan, weil ich zu viel Respekt vor anderen habe. Ich respektiere jeden und deren Geschichte. Mir ist egal, was sie in ihrer Vergangenheit erlebt haben, denn es kommt eigentlich einzig und allein auf die Persönlichkeit der Person und deren Umgang mit einem an. Aber das verstehen die meisten nicht.

Die Ampel vor mir schaltet auf Grün, sodass ich die Straßenkreuzung endlich überqueren kann und seine Freundin und er verschwinden allmählich aus meinem Blickfeld. Immer noch leicht fassungslos schüttle ich meinen Kopf und begebe mich in meinen Hörsaal an der Oxford University. Dort lasse ich mich nun mit einem Seufzen und leichtem Kopfschütteln auf einen Sitz in der vorletzten Reihe gleiten, die bereits von drei Mädchen und zwei weiteren Jungen besetzt ist.

Dann lass mal den ersten Tag in meinem ersten Semester in Oxford beginnen. Hoffen wir mal, dass es hier etwas besser läuft, als an der High School...

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