Der Menschenjunge

83 21 24
                                    

Überall war Wasser. Es füllte ihre Lungen, Augen und Ohren. Verzweifelt strampelte sie mit den Beinen, aber es brachte nichts. Ihr Körper schrie nach Luft, aber die Oberfläche war viel zu weit entfernt...

Mira schreckte aus dem Schlaf hoch. Erst langsam realisierte sie, dass es nur ein Alptraum gewesen war. Stöhnend rappelte sie sich auf vier Beine hoch, schlurfte zum kleinen Bächlein, welches durch  ihre Höhle floss, und trank gierig. Unschlüssig blickte sie zum Ausgang. Sollte sie sich wieder hinlegen? Aber da merkte sie, dass sie schrecklichen Hunger hatte, und ging hinaus, um sich ein paar Fische zu fangen.

Draußen streckte Mira ihre lange Schnauze in die Luft. Es roch nach Regen und Wind. Vorsichtig sah sie sich um, ob irgendwo jemand war. Die Menschen hatten ja schon fast jeden Platz auf der Welt eingenommen und ließen den anderen Tieren kaum Platz. Aber alles war ruhig. Nur einige Möwen saßen auf den Steinen vor der Höhle und beobachteten sie misstrauisch.

Ohne die Möwen zu beachten sprang Mira auf einen der Felsen im Wasser und hielt sich mit ihren scharfen Krallen fest. Den Blick fest auf das Wasser gerichtet, verharrte sie dort bewegungslos. Eine Weile geschah nichts. Dann zischte im Bruchteil einer Sekunde ihre Klaue vor, fuhr ins Wasser und im nächsten Moment hielt sie einen zappelnden Fisch darin. Mit einem Schlag tötete sie diesen und verschlang ihn.

Nachdem Mira noch einen Fisch gefangen hatte, war sie satt. Zufrieden ließ sie sie sich auf den kühlen Stein nieder, legte den Kopf auf die Vorderpfoten und betrachtete nachdenklich den Sonnenaufgang. 

Auf einmal stieg ihr ein merkwürdiger Geruch in die Nase. Es roch nach Blut. Neugierig reckte sie die Schnauze in die Luft. Es schien nicht viel Blut zu sein, und es war vermischt mit dem Geruch nach Algen und Seetang. Langsam kam Mira auf die Beine und schnupperte. Die Quelle schien nicht weit entfernt zu sein. Sie ging am Strand entlang, die Nase in der Luft. Nun war es ganz nah. Vorsichtig näherte sie sich dem etwas, von dem der Geruch ausging.

Es schien auf den ersten Blick eine Art Bündel zu sein, welches halb im Wasser lag. Doch als sie direkt davor stand,erkannte sie, was es war.

Dort im Sand lag ein Mensch. Er hatte die Augen geschlossen und eine Platzwunde auf der Stirn.  War er tot? Nein, Mira konnte ihn atmen hören. Es schien ein sehr junger Mensch zu sein; wohl noch ein Welpe. Mira beschnüffelte ihn. Derweil dachte sie nach. Sollte sie ihn hier einfach liegen lassen? Dann würde er nicht überleben, das war klar. Und wenn sie ihn einfach mitnahm? Er schien nicht gefährlich zu sein. Andererseits hatte Mira mit Menschen sehr schlechte Erfahrungen gemacht. Sie hatten sie gejagt, als sie sich einmal aus Versehen einem von ihnen gezeigt hatte. Die anderen Drachen waren von ihnen ausgerottet worden. Sie war komplett allein aufgewachsen; die erste Erinnerung, die sie hatte, war, als sie gerade aus dem Ei geschlüpft war,hilflos und allein.Mira hatte sich durchkämpfen müssen. Sie wusste, dass die Drachen ausgestorben waren, weil sie alles Wissen ihrer Vorväter  und - Mütter hatte.

Gedankenversunken blickte sie auf den Menschen. Er wirkte sehr klein. Mira erinnerte sich, wie verloren sie sich gefühlt hatte, als sie aus dem Ei geschlüpft und allein gewesen war. Genauso würde es wohl dem Menschen gehen, wenn er aufwachte. Wenn er jemals wieder aufwachte.

Kurz entschlossen nahm sie den Welpe vorsichtig ins Maul. So etwas sollte kein Kind erleben! Dachte sie. Dann trug Mira den Menschenjungen den Strand entlang, zu ihrer Höhle.

Der letzte DracheWhere stories live. Discover now