IX.

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"Jetzt rück wenigstens damit raus, zu welchen Freunden du fahren willst. Ich möchte wenigstens wissen, wie lange ich mir noch meinen Arsch platt drücken soll und meine Beine das Kribbeln, nachdem sie eingeschlafen sind, noch ertragen müssen."
Auch James lernte, ihren Humor zu schätzen.
Es war das einzige, was ihnen beiden bleib. 

"Es müsste wirklich nicht mehr weit sein, vielleicht ein paar Stunden, jedenfalls sollten wir noch heute ankommen. Was nicht heißt, dass du nicht versuchen solltest, zu schlafen."
"Und du bist dir sicher, dass deine Freunde uns nicht verraten werden? Ich weiß ja nicht, was auf Verstecken eines gesuchten Kriminellen und Mithilfe bei einer Entführung für eine Strafe steht..."
"Du hast wohl wirklich keine Ahnung von Freundschaft. Auf wen verlässt du dich denn bitte, wenn nicht auf deine Freunde?"
"Auf meinen Vater", antwortete sie prompt. "Jedenfalls am liebsten. Meine Mutter ist etwas zu kompliziert, um mit ihr gut auszukommen." Anna lachte nervös auf. "Aber man bekommt ja auch nicht immer, das was man will. Aber sonst komme ich eigentlich gut damit klar, mir selbst zu vertrauen."
"Da hast du recht. Aber sei froh, dass du überhaupt einen Vater hast, der sich so sehr um dich kümmert."
"Wieso?", versuchte sie vorsichtig zu erfragen. "Was ist denn mit deinem?"
"Ich kenne ihn nicht. Und ob meine Mutter einfach nur vortäuscht, nicht zu wissen, wer es ist oder sie wirklich keine Ahnung hat, weiß ich auch nicht. Da liegt mein Vertrauen also bei gleich null."
"Und deshalb brauchst du deine Freunde." Anna sagte dies eher zu sich selbst, als zu dem Jungen.
Trotzdem nickte er zur Bestätigung.

"Und was ist deine Schwäche?", versuchte James das Gespräch nach einiger Zeit voller Stille wieder weiterlaufen zu lassen.
"Ich habe ein Talent dafür, in komplizierte Situationen zu geraten", lachte sie.
"Ja, das scheinst du wirklich zu haben", stimmte er in ihr Lachen ein. "Aber ich habe gehört, dass Schlafen solche Situation einfacher erscheinen lässt. Willst du das nicht mal ausprobieren?"
"Mhm, klingt gut", murmelte sie und versuchte, es sich in dem Sitz gemütlich zu machen. "Sag, wenn du auch schlafen möchtest."

"Ich fahre schön weiter", erwiderte er leise. "So kurz vorm Ziel gebe ich nicht auf."

James fuhr immer weiter, das schlafende Mädchen neben sich. Die Stille im Auto war fast erdrückend, er hörte nur den Motor. Am liebsten hätte er Musik angemacht, doch er hatte Angst, Anna zu wecken.
Er wartete noch einige Minuten, dann war er sich sicher, dass Anna auch wirklich tief und fest schlief. Ihre regelmäßigen Atemzüge zeugten davon.
James stellte das Radio gerade so leise, dass er alles verstehen konnte, gleichzeitig aber einigermaßen sicher sein konnte, dass Anna nicht aufwachen würde. Hoffentlich hatte sie einen tiefen Schlaf.

Ein Lied nach dem anderen ließ James seine Situation vergessen und einfach immer weiterfahren. Es tat ihm gut, sich endlich mal nur auf die Musik und die Straße konzentrieren zu können.
Nach etwa einer halben Stunde kamen die Nachrichten.
Irgendein Unternehmen entlässt hunderte von Mitarbeitern.
Erneut Proteste gegen Fracking. Und gegen Tierversuche.
Eine Entführung.

James wurde hellhörig, als er bemerkte, dass es um ihn ging. Er drehte das Radio etwas lauter, um sicher zu sein, dass ihm nichts entging.
"Gestern wurde um kurz nach fünf ein dunkelblondes 16-jähriges Mädchen mit einer grünen Jacke entführt, Anna R. Der Entführer wurde von der Polizei vernommen, konnte sich dann allerdings losreißen und mit einer Waffe die Tochter eines Polizisten bedrohen. Er selbst ist 18 Jahre alt, hat dunkelbraune Haare und trägt eine blaue Sweatshirt-Jacke. Er flieht in einem silbernen Toyota mit folgendem Kennzeichen. Um Hinweise wird dringenstens gebeten."
Er stellte das Radio aus, James hatte genug. Er hatte schon von besseren Beschreibungen gehört, doch das Auto war ein Makel, das sie so schnell wie möglich loswerden mussten.

Kein Moment der Ruhe wurde ihm gegönnt. Sobald James begann, etwas zu genießen, so wie die Musik, musste es ihm verdorben werden.
Wie viel Pech konnte ein Mensch innerhalb weniger Tage haben?

Jedoch schätzte er, dass sie in einer Stunde endlich an ihrem Ziel sein würden.
Ian konnte ihnen bestimmt helfen. Das jedenfalls redete er sich immer wieder ein.
An eine andere Lösung konnte er nicht denken, Ian war wirklich seine letzte Hoffnung. Obwohl er dort auch nicht ewig bleiben konnte. Er brauchte einfach etwas Zeit um zu überlegen. Und Anna müsste er auch bald gehen lassen.

Sobald er einen Blick zu ihr herüberwarf, tat es ihm weh, das unschuldige Mädchen mit hineingezogen zu haben. Sie hatte nichts mit dem ganzen zu tun und er musste sie eigentlich so früh wie möglich wieder gehen zu lassen.
Das alles dachte er zumindest von ihr.

Gleichzeitig aber war er froh, gerade sie als Gesellschaft zu haben. Ohne Anna wäre er wahrscheinlich schon längst durchgedreht und hätte vielleicht alles hingeschmissen. Vielleicht nicht die Ruhe gehabt, einen notdürftigen Plan auszuarbeiten.
Anna hatte - wahrscheinlich ohne es zu wollen - James selbst die Flucht um einiges vereinfacht.

Wie paradox.

James schuldete ihr mehr als sie nur freizulassen. Die Wahrheit verdiente sie längst. Er fasste den Entschluss, ihr bevor er sie freilassen würde, seine ganze Geschichte zu erzählen. Und weswegen er vernommen wurde, wieso er fliehen musste.
Hoffentlich kam nicht früher heraus, was jeder von ihm dachte. Dann hätte er Anna mehr als verloren.

Sie hatte immer eine reelle Chance zu fliehen. Und James traute ihr auch zu, dass sie das schaffen würde.
Die Frage, die sich ihm immer wieder auftat, war, wieso sie trotzdem bei ihm blieb.
Und ihm sogar noch half.

Doch er traute sich nicht, ihr diese Frage zu stellen. Zu groß war die Angst, sie würde dann wirklich gehen.
Vielleicht suchte sie Abwechslung in ihrem Leben?
Oder sie arbeitete noch den besten Plan heraus, ihn der Polizei zu überliefern und als Heldin dazustehen?

Doch manchmal steckt etwas ganz anderes dahinter, an das man nicht mal denken würde.

Was auch immer es war, James wusste, dass er aufpassen musste, Anna nicht zu sehr zu vertrauen, bevor er wusste, was genau sie im Schilde führte.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Nov 05, 2016 ⏰

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...bis du für die Wahrheit tötestWo Geschichten leben. Entdecke jetzt