VI.

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Das nächste Schild, an dem sie vorbeikamen, verwieß auf eine Tankstelle mit Toilette und Imbiss.

James bemerkte es kaum, erst als die Einfahrt kam, riss er vom Beifahrersitz aus das Lenkrad herum. Anna bemerkte schnell, was er vorhatte und navigierte den Wagen sicher und ohne Kratzer auf den vollkommen leeren Parkplatz.


"Wir sollten tanken und auf der Toilette können wir unsere Haare färben. Klingt das nicht nach einem guten Plan?" James war ein bisschen stolz auf sich, dass endlich mal ein vernünftiger Vorschlag von ihm kam.

"Du hast recht. Noch haben wir eine knappe Stunde, ohne dass nach uns gesucht wird. Also gehe ich schon einmal auf Toilette und mache mir die Färbung in die Haare und du tankst in der Zwischenzeit und kommst dann nach." Anna drückte ihm ein Teil des Geldes, dass sie für das Abendessen bei sich trug, in die Hand.

Dann setzte sie sich die Kaputze ihrer Jacke auf und ging zum Kofferraum. Sie setzte die Brille direkt auf. Die Sehstärke war nur gering und wenn sie die Brille nach vorne schob, konnte sie darüber hinweg sehen. Sie nahm die Färbung und das Make-up. Hätte sie doch bloß noch an eine Schere gedacht, um ihre Haare zu kürzen...


Sie bahnte sich ihren Weg über den Parkplatz zu den Toiletten, während James den Wagen zu einer Säule fuhr. Auch er zog sich die Kaputze über den Kopf und hoffte, dass die Kameras genauso veraltet waren wie die ganze Tankstelle.


Anna ging erst auf eine total verschmutzte Toilettenkabine und zog danach die Handschuhe über. Fast tat es ihr um ihre dunkelblonden Haare leid, aber was sein muss, muss nun einmal sein. Dann trug sie die Farbe in ihre Haare auf. Sie betrachtete sich in dem verschmutzten Spiegel. Über ihren Schultern hatte sie Massen von Toilettenpapier gelegt, damit auch bloß keine verdächtigen Flecken auf ihre Kleidung kamen.

Ihre Anziehsachen waren der einzige Mangel, der noch bleiben würde. Sie mussten noch überlegen, wie sie das ändern konnten. Obwohl sie beide natürlich etwas Typisches für ihr Alter trugen. Sie könnten jeder sein. Ein normaler Jugendlicher, wie man ihn jeden Tag auf der Straße traf.


Eine halbe Stunde später wusch sie ihre Haare wieder aus.

Zwischendurch hatte sie gehört, wie die Tür im Raum nebenan aufging. Scheinbar war auch James schon dabei, seine Haare zu färben.

Sie ließ so lange das Wasser durch ihre Haare laufen, bis das Wasser, das aus ihren Haaren lief, wieder vollkommen klar war. Dann versuchte sie, ihre Haare unter dem Handföhn zu trocknen, was nur mäßig funktionierte. Wenigstens funktionierte der Föhn. Als sie einigermaßen zufrieden war, sah sie wieder in den Spiegel. Auf den ersten Blick erkannte sie sich gar nicht wieder. Das konnte und musste man ändern. Man würde sie kaum wiedererkennen, auch auf den zweiten Blick nicht.

Sie band ihre nun braunen Haare zu einem strengen Dutt zusammen. So sah man zwar viel von ihrem Gesicht, aber das konnte sie mit Hilfe des Make-ups gut genug verändern. Durch den Eyeliner sahen ihre Augen dunkler aus und das Make-up machte ihre Haut eine Nuance heller. Ihre Lippen wirkten mit dem Lippenstift auf den ersten Blick etwas voller. Als sie sich die Brille aufsetzte war sie mehr als zufrieden mit ihrem Aussehen.

Ihr eigener Vater würde sie kaum wiedererkennen.


Sie ging hinaus und stellte sich an das Auto; den Schlüssel hatte nun James.

Doch dieser kam auch einige Minuten später dazu. Auf den ersten Blick hätten sich beide fast nicht erkannt. Er trug nun eine dunkle Mütze, unter denen seine Haare hersahen, die jetzt genauso dunkel waren. Eine große Sonnenbrille verdeckte einen großen Teil seines Gesichtes und man erkannte nicht, worauf seine Augen gerichtet waren. Er wirkte wie ein Star, der sich vor der Presse verstecken wollte, während ihr strenges Auftreten eher an eine zielbewuste Karrierefrau erinnerte.

Nun waren sie wirklich ein komisches Doppelpack, das man aber trotzdem kaum beachtete, wenn man es traf.

Mit einem Nicken stiegen sie beide in das Auto ein. Dieses Mal setzte sich James wieder hinter das Steuer.


"Noch 15 Minuten", sagte Anna nach kurzer Zeit mit einem Nicken auf die kleine Uhrzeit, die mit roten Ziffern angezeigt wurde. "Das war knapp."

James lächelte. Es war sein Verdienst, dass sie nun sicherer waren. Ihm gefiel das Gefühl, seinen Verfolgern einen Schritt voraus zu sein. Ihm gefiel das Gefühl der Freiheit, als er mit dem Auto über die freien Straßen jagte. Ihm gefiel es, Anna neben sich sitzen zu haben.

So langsam fühlte er sich in seiner Rolle angekommen, zu Hause. So langsam fing er an, sich zurechtzufinden und sie sogar zu genießen. In seiner Rolle als Gesetzloser, als Staatsfeind, als Entfüherer. Als unterschätztes Genie.

So viel Adrenalin auf einmal hatte er über einen so langen Zeitraum noch nicht in seinem Körper gespürt. Und es machte ihm Spaß.


Über seine Trauer war er nun hinweg. Er war ein freier Mensch und mit etwas Geschick würde er es vielleicht sogar schaffen, sein altes Leben annähernd zurückzuerhalten. Wenn dieser ganze Spuk vorüber war und die Missverständnisse endlich aus dem Weg geräumt wurden.

Wenn er Anna nur davon überzeugen könnte, dass er unschuldig war, hätte er den besten Zeugen, der für ihn bürgen würde, den er sich nur wünschen könnte. Vielleicht würde er ja sogar mit Sozialstunden davonkommen.

Das Problem nur war, dass er Anna erst erzählen müsste, was ihm vorgeworfen wurde. Und er wollte ganz sicher nicht ihr Misstrauen wecken. Nun, wo er auf sie zählen konnte und sie ihm wohl auch einigermaßen vertraute, musste er nicht alles zerstören.

James wusste, er musste den richtigen Moment abpassen, um ihr alles zu erzählen. Zu schnell könnte er zu viel verlieren.


Er hatte das Gefühl, dass er gerade auf dem richtigen Weg war, sein Spiel zu gewinnen. Er lag immer einen Schachzug vorne. Er würfelte immer Sechsen. Er gab immer die richtigen Antworten.

Doch was er nicht wusste, war, dass James auf die Art das richtige Spiel nur verlieren konnte.

...bis du für die Wahrheit tötestWo Geschichten leben. Entdecke jetzt