IV.

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Die Zeit schien für Anna einen Moment still zu stehen.

Sie wusste den Schlüssel sicher in ihrer Hand und bisher hatte James bestimmt nicht bemerkt, was los war. Dafür blieb ihm erst viel zu wenig Zeit.

Sie ging ihre Optionen durch, während er noch einmal gähnte und sich schon zu seiner rechten Seite wandte. Gleich würde er bemerken, dass Anna nicht dort war.

Jetzt zählte jede Millisekunde.

Das war der Moment. Anna hatte die Tür nach dem Knopf abgetastet, den sie suchte und mit einem Klicken waren die Türen nicht mehr verschlossen. Sie schob sich ein wenig nach oben und öffnete die Tür. Sie wusste, dass ihr Gewicht immer noch gegen die Tür lastete und sie gleich aus dem Wagen fallen würde.

Das alles würde ziemlich schnell gehen und sie wusste nicht, was für ein Untergrund sich dort befand. Es war mehr als riskant. Aber hoffentlich das Risiko wert.

James allerdings hatte die Lage schneller erkannt, als sie es ihm zugetraut hätte und während sich Anna darauf vorbereitete, sich abzurollen, sobald sie den Boden berührte, schoss er nach vorne und packte sie als sie noch in der Luft schwebte.

Er war stark, noch stärker als man es ihm ansah. Und er hatte Reflexe.

Einfach perfekt.

James zog sie zurück ins Auto, auf seinen Schoß. Das war der vorerst bestmöglichste Ort.

Er konnte nichts sagen, wusste nicht, was er sagen sollte. Er starrte sie einfach ungläubig an und versuchte zu verarbeiten, was gerade geschehen war.

Er hatte gehandelt, ohne groß nachzudenken. Das war gut für den Moment, aber nun musste er sich erst einmal Zeit nehmen.

Auch sie schwieg. Es lag an ihm, die ersten Worte dazu zu sagen. Sie nutzte den Moment, um schon einmal ein bisschen herumzuprobieren, ob sie die Handschellen lösen konnte.

"Bist du eigentlich verrückt?", schrie er sie dann an, als er sich nicht mehr halten konnte. Es war nicht nur die Wut auf das Mädchen, das fliehen wollte, sondern auch auf sich selbst, da er nicht bemerkt hatte, was vor sich ging. "Du hättest uns beide in große Schwierigkeiten bringen können! Stell dir mal vor, du hättest eine schlimme Verletzung erlitten. Dann hätte ich dich ganz sicher nicht ins nächste Krankenhaus gebracht. Und ich hätte dich weiterhin mitnehmen müssen. Blut steht diesem Wagen nicht. Und mir erst recht nicht."

Anna antwortete ihm nicht und sah ihn einfach weiterhin an. Die Tür stand immer noch offen und der Wind wehte den Regen zu ihnen hinein. Doch James schien das nicht zu bemerken.

"Was hast du da eigentlich versucht zu machen? Die Tür hättest du doch auch von deinem Sitz aus entsperren können." Er fühlte kurz mit seiner linken Hand nach, ob sich die Pistole noch immer unter seinem Shirt in dem Hosenbund befand. Erleichtert atmete er aus. Was wollte sie also? Sie hätte das Ganze ganz sicher nicht gemacht, wenn sie nicht bekommen hätte, was sie wollte. "Es ist jetzt eh egal, sag mir einfach, was du hast und ich vergesse das alles hier."

"Ich könnte jetzt nach vorne stürmen und dir mit meinem Kopf einen Kinnhaken geben. Mich dann schnell umdrehen und dir das Metall meiner Handschellen ins Gesicht schlagen. Aber ich mache es nicht."

James erkannte, dass sie recht hatte. Und dass er wahrscheinlich nicht rechtzeitig reagieren könnte. "Und wieso machst du das dann nicht?"

"Vielleicht vertraust du mir ja und ich bekomme doch das, was ich wollte." Sie drehte sich auf seinem Bein, auf dem sie immer noch saß und zeigte ihm so ihren Rücken mit den gefesselten Händen. James musste zweimal hinsehen, um zu bemerken, was an dem Bild falsch war. Der Schlüssel steckte in der einen Schelle und sie hätte ihn nur umdrehen zu brauchen, um sich zu befreien - das wohl einfachste, nachdem man den Schlüssel hineinbekomen hat. "Ich kann sie auch selbst öffnen, aber es ist einfacher und weniger schmerzhaft, wenn du es machst."

Er wusste plötzlich, was ihr Plan war. Sie hatte damit gerechnet, dass er wenigstens vom Klicken der Entsperrung wach wurde. Das hatte er auch. Und wenn sie weggelaufen wäre, hätten die gefesselten Hände sie stark behindert. Gegen James hätte sie dann keine Chance gehabt und wäre von ihm wieder eingefangen worden. Normal vielleicht schon. Ein verschlafener Entführer erhöhte ihre Chancen.

Dieses Mädchen war ganz sicher nicht ein einfacher Teenager. Sie hatte wohl mehr von ihrem Vater gelernt als James es je gedacht hätte. Und ihr Vater hatte gut darauf geachtet, die Handschellen so weit wie möglich zu machen. Und das Schlüsselloch auf der praktischere Seite zu finden.

Anna hatte scheinbar ihre Entscheidung getroffen, wie sie sich verhalten wollte. Das unschuldige Opfer schien sie nicht mehr spielen zu wollen, vielmehr stand James jetzt einem Machtkampf mit ihr gegenüber. Er musste ihr unbedingt zeigen, dass er immer noch die Kontrolle hatte und sich anpassen konnte. Dass er sich nicht vor ihr fürchtete.

Jedoch war James auf Anna angewiesen wie auf sonst niemanden zuvor. Er musste mit ihr spielen; er war sich sicher, dass ihr das ganz sicher gefallen würde. So schätzte er sie bisher ein.

"Und jetzt verrate mir noch, wieso ich das tun sollte. Eigentlich sollte ich sie doch enger machen und dich in den Kofferraum sperren", flüsterte er in ihr Ohr, mit seinem Gesicht an ihrem Nacken. Sie könnten wie ein Liebespäarchen aussehen.

"Eigentlich. Aber wäre das nicht langweilig?", grinste sie.

Er drehte den Schlüssel um und befreite sie noch von der verbliebenen Fessel.

Dann schloss sie die Tür und setzte sich zurück auf ihren Platz, während sie sich die Handgelenke rieb. "Dann kann es jetzt ja weitergehen", lächelte sie.

"Versuch bloß nichts", drohte er ihr. "Ich tue dir nichts an, du spielst mit. Du hällst dich an meine Regeln und ich mache das auch."

"Geht klar, Chef", lachte sie und überschlug ihre Füße, die sie auf das Armaturenbrett legte. Sie schien nicht zu verstehen, wie ernst es ihm war.

Sie beide hatten gerade erst erkannt, zu was der jeweils andere in der Lage war. James durfte Anna bloß nicht unterschätzen. Und auch Anna sollte James nicht unterschätzen. Bisher hatte sie nur einen Teil seiner Reflexe, seiner Kraft und seiner Intelligenz erfahren, das wusste sie.

Doch er liebte es anscheinend genauso sehr zu spielen wie sie.

Es hatte sich innerhalb von Minuten einiges zwischen ihnen geändert.

"Du bist meine Garantie und ich garantiere dir, dass dir nichts passiert. Es ist ganz einfach für dich: Du musst nur mitspielen." Doch James wusste nicht, dass das gar nicht sein Spiel war. Und die Regeln nicht von ihm geschrieben worden waren.

...bis du für die Wahrheit tötestWo Geschichten leben. Entdecke jetzt