VIII.

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James war überrascht. Mit so einer Aussage hatte er nicht gerechnet. Unauffällig warf er einen kurzen Blick zu ihr hinüber. Keine Frage, sie war nicht leicht zu haben. Sie war hübsch, intelligent, charmant. Er musste nur ihren Schwachpunkt herausfinden.
Jedes Mädchen hatte einen. Und wenn man den kannte, dann gehörte sie einem eigentlich schon. Und sie hatte dann noch nicht einmal mehr eine Chance.

Obwohl nun wohl der schlechteste Zeitpunkt wäre, um sich ernsthaft in ein Mädchen zu verlieben. James schüttelte leicht seinen Kopf und versuchte die Gedanken daran abzuschütteln, was gewesen wäre, wenn sie sich einfach so begegnet wären.

"Wann lässt du mich eigentlich gehen?", versuchte sie wie nebenbei zu erfragen. "Ich habe dir so gut geholfen, wie es ging. Und je eher du mich gehen lässt, desto weniger werden sie dich verfolgen."
"Ich kann dich nicht gehen lassen. Jedenfalls noch nicht." James versuchte, es bestimmt wirken zu lassen, doch schwang etwas in seiner Stimme mit, das man als 'Es tut mir leid' deuten könnte. Er hoffte, dass nur er selbst das gehört hatte.
Er durfte keine Schwäche vor Anna zeigen. Sie würde sie ausnutzen und vielleicht sogar fliehen. Und ihn dann verraten. Dafür war sie stark genug. Willensstark genug.
Nein, das durfte nicht passieren.
James fürchtete außerdem, irgendwann, wenn er ganz alleine ist, seine Flucht aufzugeben. Was würde ihn dann noch motivieren?

"Die Vorräte sind spätestens in ein paar Tagen aufgebraucht - zu zweit sogar noch schneller, der Tank noch früher. Das Auto hier wird gesucht. Was meinst du wie weit wir noch kommen?" Anna flüsterte. Erst jetzt rückte sie mit der Wahrheit heraus, die James dazu veranlassen würde, sie erst recht nicht frei zu lassen und die Chancen auf eine Entdeckung sinken ließen.

Anna hatte mit einer Panikattacke oder Wut gerechnet, doch seine Ruhe überraschte sie.
"Ich weiß", war seine einzige Antwort.
Anna schwieg und sah ihn erwartungsvoll an. Sie war gespannt auf die Pläne, die er hatte.
"Ich meine, wir können viel machen. In ein Motel -", doch noch bevor er weitere Möglichkeiten aufzählen konnte, unterbrach Anna ihn.
"Wir haben nicht genug Geld. Und selbst wenn, genau die werden alarmiert sein. Dein Wunschdenken sollte sich so langsam mal legen."
James grinste breit. Irritiert wartete Anna darauf, endlich seinen echten Plan zu erfahren.

"Ob du es glaubst, oder nicht, aber selbst der im Moment meistgesuchteste Verbrecher der Vereinigten Staaten hat Freunde."
Anna zog eine Augenbraue nach oben. "Und diese 'Freunde' geben uns eine Unterkunft auf unbestimmte Zeit und versorgen uns? Für nichts?" Sie ging nicht auf den Part mit dem meistgesuchtesten Verbrecher ein, denn er wusste gar nicht, wie recht er damit lag.
"Du solltest wirklich mal anfangen, an das Gute in Menschen zu glauben", er stieß - so gut es beim Fahren ging - mit seinem Ellenbogen gegen ihren Arm.
"Meinst du echt ich würde an das Gute glauben, wenn ich gerade erst entführt wurde?" Sie war kurz davor zu schreien. Er hatte die Grenzen ihrer Nerven erreicht, doch anstatt sie zu beschwichtigen oder in Ruhe zu lassen, stellte er eine sehr riskante Frage.
"Hast du eigentlich je richtige Freunde gehabt?"

Anna wurde still. James erwartete schon gar keine Antwort mehr und wünschte sich, seine letzte Frage zurückziehen zu können, da regte sich das Mädchen neben ihm.
"Ich bin gerade mal 16 Jahre alt. Was meinst du, wie viele Leute ich kenne? Und wie viele davon mich schon hintergangen haben? Ich sehe es doch jeden Tag, jeder scheint nur an sich selbst zu denken. Selbst ich tue es."

"Ich denke nicht, dass du so egoistisch bist. Ich kenne Geiseln, die mehr an sich denken." James lachte, doch Anna stimmte nicht ein. Vielleicht sollte er sie doch nicht immer daran erinnern, dass sie keinerlei Macht hatte. "Das war nur ein Witz, okay? Ich denke, dass du dann wohl einfach noch nicht die richtigen Freunde gefunden hast. Ich würde dir ja meine Freundschaft anbieten, aber ich glaube, dass wäre mehr als plump." James lachte wieder über seinen eigenen Witz, um die Anpannung zu lösen. "Außerdem kenne ich dich dafür noch nicht genug. Willst du mir nicht noch etwas über dich erzählen?"

Er versuchte so gut wie möglich, das Gespräch wieder auf eine weniger peinliche Stufe zu heben, betrachtete währenddessen aber die ganze Zeit Annas Reaktion.
Sie hingegen wandt sich ab und sah aus dem Fenster zu ihrer Rechten hinaus. Die Schere hatte sie noch auf ihrem Schoß legen, mittlerweile war sie aber wieder angeschnallt. "Ich möchte jetzt nicht über mich reden."

James schluckte. "Möchtest du etwas über mich erfahren?" Die Worte waren schwer für ihn. Je mehr er über sich offenbarte, desto leichter würde es für sie sein, ihn anzugreifen oder alles hinterher der Polizei zu erzählen.
"Ich möchte deinen Plan wissen. Wieso versuchst du immer wieder, dass ich dir vertraue? Und wieso scheint es auch noch zu klappen?"
James schluckte erneut, diesmal aber um ein Grinsen zu unterdrücken.
Er dachte, er hätte ihren Schwachpunkt gefunden.
Aber so einfach war ein Mädchen wie Anna nicht zu knacken.

"Ich sehe nicht den Sinn darin, dir nicht zu vertrauen. Du hast Dinge getan, die deine Loyalität beweisen." Nach einem Seitenblick von Anna korrigiert er sich. "Na ja, wenigstens, dass du nicht wieder direkt versuchst, zu fliehen. Und wenn wir füreinander arbeiten, macht es das für uns beide einfacher. Du möchtest mindestens genauso wenig wie ich, dass ich dir wieder drohen muss. Es hilft uns beiden nicht weiter. Und wir beide können gerade Vertrauen gebrauchen."

"Warum tust du immer so, als wärst du unschuldig; als müsstest du das ganze hier machen? Du hast immer noch die Chance, dich der Polizei zu stellen. Ich kann ein gutes Wort für dich einlegen, immerhin sind wir doch jetzt befreundet." Als James einen irritierten Blick zu ihr warf, zwinkerte sie ihm zu. Eben noch hatte sie ihn angeklagt, dass er Vertrauen schaffen wollte, jetzt bezeichnete sie ihn als Freund. Er könnte keine seltsamere Begleitung haben.

James legte den Kopf schief. "Nettes Angebot, aber danke. Trotzdem solltest du so langsam mal anfangen mit dem Gedanken zu spielen, dass ich unschuldig sein könnte, woher willst du dir da sicher sein?"
"Weißt du was, ich werde dich gar nicht danach fragen, was dir vorgeworfen wird. Ich will es gar nicht erst wissen." Anna sagte dies mit der ruhigsten Stimme, die sie erzeugen konnte.
"Damit du unvoreingenommen in diese Freundschaft gehen kannst?", bemerkte James lachend.

Anna fing an, seinen Humor zu schätzen. Er hatte etwas Befreiendes, dass sie ihre Situation für einen kleinen Moment vergessen ließ.
Und ihre Aufgabe. Und ihr Ziel.
Doch es war nur ein kleiner Moment, in dem sie das Lachen zuließ.
Eine kleine Atempause.

...bis du für die Wahrheit tötestWo Geschichten leben. Entdecke jetzt