III.

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Das war das erste Mal, dass er sie mit ihrem Namen ansprach.
Und nun kannte sie auch seinen.

"Also, James", sagte sie und betonte seinen Namen stark. "Ich soll dich unterhalten? Dann erzähl mir doch erst einmal deine Geschichte."
"Meine Geschichte?", fragte er verdutzt.
Mittlerweile herrschte vollkommene Dunkelheit um sie herum. Ihr Auto war das einzige, was auf der Straße fuhr. Bald müssten sie Halt machen, Anna merkte schon, wie ihm es immer schwerer fiel, seine Lider offen zu halten.

"Na ja, wie du hierhin gekommen bist. Wieso du jetzt hier am Steuer sitzt und fliehst und ich gefesselt das ertragen muss." James beneidete sie, selbst in der Situation noch einen Funken Humor zu haben. Er selbst würde wahrscheinlich nicht so ruhig sein.

Doch zog er eine Augenbraue hoch, weil er immer noch nicht zu verstehen schien, was sie meinte.
"Nun gut, ich wollte eigentlich nur meinen Vater zum gemeinsamen Abendessen abholen. Meine Eltern leben getrennt und ich sehe ihn ziemlich selten." Sie zuckte kurz mit den Schultern. "Jetzt wahrscheinlich noch seltener, weil meine Mutter mich nach einer Entführung bestimmt nicht mehr aus dem Haus lässt. Und schon gar nicht zu ihm." Sie lachte nicht, sie meinte es nicht als Scherz. Doch sie schien auch nicht traurig zu sein. Sie nannte es einfach nur wie einen Fakt.
Ein komisches Mädchen.

Doch zum ersten Mal hatte sie wirklich in seiner Gegenwart gesagt, was das Ganze war. Eine Entführung. Eine Entführung mit Folgen, die sich nicht rückgängig machen ließen.

"Nun, wieso sitzt du hier im Auto?"
"Der eine Polizist, dein Vater, er hatte mich gerade befragt. Er war locker, schien mich einfach zu unterschätzen. Für einen Jugendlichen zu halten, der eh schon alles verloren hatte. Und dann wurde er unvorsichtig, ungeduldig und hat sich vor mich auf den Tisch gesetzt. Ich konnte ihm seine Waffe ganz einfach aus seinem Gürtel ziehen." Er schaute immer weiter nach vorne und wartete auf eine Reaktion von Anna, doch sie sagte nichts.

"Es war eigentlich viel zu einfach", lachte er. "Der Polizist war vollkommen überrascht. Und dann konnte ich ihn einfach bedrohen. Mit seiner eigenen Dienstwaffe." Wieder durchzog ein irres Grinsen sein Gesicht. Er war verdammt stolz auf sich."Wie es weiterging, kannst du dir denken. Ich habe ihn in dem Raum eingesperrt und bin die Treppe hinuntergelaufen. Und dann standest du da im perfekten Moment, als wärst du bestellt gewesen. Oder ein Schutzengel, der mir geschickt wurde." Er warf einen kurzen Blick zu Anna hinüber, die auf ihrem Sitz weiter zum Fenster gerückt war, wie, um einem Psychopathen zu entkommen. Ihre Einstellung konnte er noch ändern, das wusste er.
Er würde alles schaffen. Das hatte ihm dieser Tag bewiesen.

"Na ja, wie dem auch sei, jemand hat wohl deinen Vater befreit und den Rest solltest du wirklich gut kennen. Deshalb sitzt du nun neben mir."

James hatte ihr nicht verraten, wieso er überhaupt befragt wurde. Und wieso er flüchten musste. Wieso die Polizei ihn festgenommen hatte.
Doch Anna wusste es besser und fragte nicht nach. Wer wusste schon, wie der Junge reagieren würde? Er schien unberechenbar zu sein.
Generell schwieg Anna zu seiner Geschichte.
Nach einigen Minuten erinnerte er sie an ihre Verabredung. "Hey, ich dachte, wir wollten einander Gesellschaft leisten."
Doch als er einen Blick zu ihr warf, lehnte ihr Kopf nur am Fenster und ihr Brustkorb hob sich langsam und senkte sich nach kurzer Zeit wieder.

James richtete seine Augen wieder auf die Straße. Vor dem Mädchen müsste er keine Angst haben. Sie würde ihm nichts antun. Auch, wenn er sie noch nicht wirklich einschätzen konnte, war er sich einer Sache sicher: Die Flucht würde mit ihr gewiss nicht so langweilig werden.
Wenn er damals schon gewusst hätte, wie richtig er damit lag, hätte er sie sofort aus dem Auto geworfen. Doch er war unwissend. Und fuhr einfach weiter.

James hielt es nur noch eine Stunde durch, bis er selbst zu müde war, um noch weiter zu fahren. Seiner Meinung nach hatten sie sich weit genug vom letzten Ortungspunkt, wo er das Handy aus dem Fenster geschmissen hatte, entfernt. Und wenn das Auto oder das Mädchen neben ihm gechipt waren, hätte er so oder so keine Chance.

Er suchte sich den nächsten Feldweg und fuhr hinein. Das Auto stellte er halb versteckt zwischen den Bäumen ab, in der Hoffnung, dass man erst wenn die Sonne wieder richtig schien, das Auto entdecken könnte.
Er versicherte sich noch, dass das Fahrzeug auch richtig abgeschlossen war und stellte dann seinen Sitz so ein, dass er - sofern das in dem Auto möglich war - lag.
Es dauerte nicht lange, bis er eingeschlafen war.

~

Durch das rhythmische Trommeln der Regentropfen auf das Autodach und die Windschutzscheibe wurde er wach und blinzelte kurz. Es war bestimmt schon Morgen, doch die Wolken ließen die Welt unbeleuchtet und grau, zudem würde der Regen ihr Auto bestimmt verstecken. Außerdem waren die 24 Stunden noch nicht vorbei. Ein Lächeln legte sich auf sein Gesicht, doch hielt er die Augen weiterhin geschlossen. Er dachte, er hätte alles unter Kontrolle. Er dachte, er wäre sicher.

Wie falsch er doch lag.

Anna hielt ihren Atem an und versuchte ihren Puls herunterzufahren, als sie das Lächeln sah. Er durfte jetzt nicht wach werden.
Sie hatte sich mit ihren gefesselten Händen an der Lehne ihres Sitzes hochgeschoben und mit einer Schulter abgestützt, während sie einen Fuß auf ihrem Sitz behielt und den anderen schnell und schwungvoll, aber trotzdem lautlos auf dem schmalen freien Streifen des Sitzes an der Fahrertür abstellte. Der Abstand zwischen ihren beiden Schuhen war doch größer als sie es gedacht hatte und sie verlor den Kontakt zu der Lehne ihres Sitzes. Und somit auch für kurze Zeit ihr Gleichgewicht. Ihre Hände, die sich immer noch in den Handschellen befanden, konnten sie nicht halten und sie fürchtete, direkt auf ihn zu fallen.

Doch dann konnte sie sich noch rechtzeitig ihr Gewicht nach hinten verlagern und sich so mithilfe ihrer Arme und ihres Kopfes an dem niedrigen Autodach abstützen, zugleich hätten aber noch ihre Beine den Sturz unbemerkt auffangen können, indem sie sich gegen das Lenkrad lehnte. Doch die Gefahr, dass sie dabei die Hupe berührte, wäre zu hoch gewesen.

So jedoch hatte sie es geschafft und stand über ihm. Warum musste er genau in dem Moment scheinbar wach werden? Anna verharrte minutenlang still und wartete auf eine Reaktion von James, doch dieser atmete nach einiger Zeit wieder ruhig. Mittlerweile schliefen Anna schon ihre Beine ein, doch sie hatte nur diese eine Chance.

Sie wusste, dass James die Schlüssel in das Seitenfach der Tür getan hatte. Wie unvorsichtig. Seine Hosentasche wäre ein viel sicherer Platz gewesen. Und unerreichbar für Anna.

Sie legte vorsichtig ihr Gewicht gegen die Tür und die Fensterscheibe und zog ihren hinteren Fuß nach. Jetzt lehnte sie nur kniend an der Tür. Sie musste aufpassen, dass ihre Füße nicht wegrutschten oder ihre Knie zu tief kamen und James berührten.
Sie atmete ganz langsam ein und wieder aus.

Dann senkte sie ganz langsam ihre Arme, bis ihre Fingerspitzen den Boden des Seitenfachs berührten. Langsam tastete sie es, ohne Geräusche zu machen, nach dem Schlüssel ab. Und endlich fand sie ihn.
Noch schien sie unentdeckt. Sie ging noch ein Stückchen tiefer und umschloss dann den Schlüssel mit ihren Händen.

Die Hälfte hatte sie geschafft.

Und dann schlug er die Augen auf und streckte sich.

...bis du für die Wahrheit tötestWo Geschichten leben. Entdecke jetzt