II.

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"Dein Schluchzen irritiert mich. Es ist doch eh bald vorbei."
Ein noch größerer, diesmal aber versuchter unterdrückter Schluchzer war zu hören.
"Nein, so meinte ich das nicht!", probierte er das Missverständnis aufzuklären. "Ich werde dir nichts antun, wenn es nicht sein muss. Versuche dich einfach zu beruhigen, okay?"

Von dem Mädchen kam keine Antwort, doch hoffte er einfach mal, dass sie genickt hatte, denn für die nächsten Stunden herrschte vollkommene Stille im hinteren Teil des Wagens.
Er überlegte angestrengt, wohin er fahren könnte. Erst einmal musste er so weit von der Stadt weg, wie er nur konnte. Und in ein paar Tagen, wenn es nicht mehr weit ist, über alle Berge zu kommen, müsste er das Mädchen auch noch absetzen. Doch dazu würde es nicht kommen.

Langsam fing es an zu dämmern. Die Stadt hatten sie schon weit hinter sich gelassen und scheinbar folgte ihnen niemand.
Plötzlich richtete das Mädchen hinter ihm ihre ersten Worte an ihn. "Bist du dir sicher, dass du noch weiter fahren kannst? Ich werde zwar nicht gerne entführt, aber noch weniger mag ich es, bei einem Unfall zu sterben, weil der Fahrer einschläft."

Der Junge war vollkommen überrascht. Er hätte nicht gedacht, dass sie anfangen würde, mit ihm zu reden. Doch ihm huschte auch ein kleines Lächeln übers Gesicht. Ihm gefiel es, wie sie selbst in dieser Situation noch Humor hatte. Oder es war ein Zeichen für Nervösität. Beides wäre nicht schlecht.
"Klar, geht das noch. Aber wenn du möchtest, kann ich kurz anhalten, damit du dich vernünftig hinsetzen und anschnallen kannst, wenn du dich dann besser fühlst."

Sie wusste nicht, wieso er nachgab.
Und er selbst wusste es auch kaum. Wahrscheinlich verspürte er doch ein wenig Mitleid, da sie eigentlich nichts damit zu tun hatte.

Als die Straße gut überblickbar und vollkommen leer war, hielt er rechts und half dem Mädchen, aufzustehen. Ihr Körper war durch die unbequeme Lage vollkommen verspannt und ihre Körperteile eingeschlafen. Vor allem ihre Arme kribbelten wie wild, als das Mädchen versuchte, sie langsam zu bewegen. Doch die Handschellen hinderten sie daran.
Trotzdem versuchte sie, ihren eigenen schmerzenden Körper für einige Zeit auszublenden und sich auf ihren Entführer zu konzentrieren. Er trug eine dunkelblaue Sweatshirt-Jacke mit einem nicht mehr ganz so weißen T-Shirt dadrunter. Dazu eine einfache blaue Jeans und sportlich geschnittene Schuhe. Durchschnittlich also, bis auf die Tatsache, dass er die Klamotten schon mehrere Tage lang trug. Doch unter seinen Sachen zeichneten sich Muskeln ab, die von seiner Stärke zeugten, die das Mädchen schon wahrgenommen hatte, als sie noch vor einiger Zeit von ihm bedroht wurde.

"Darf ich mich nicht nach vorne setzen?", bettelte sie. "Mir wird immer so schlecht, wenn ich hinten sitze. Oder liege."
Der Junge zog eine Augenbraue nach oben. Er fragte sich, ob sie denn gar keine Angst vor ihm hätte.
Das Mädchen allerdings schien sein Zögern anders zu deuten. "Was kann ich schon tun? Meine Hände sind gefesselt und es bringt mir auch nichts, zu wissen, wo wir sind. Ich kann es doch eh niemandem sagen."

Er merkte, dass irgendwas nicht stimmte. Dass ihm irgendwas daran falsch vorkam. Doch er kam einfach nicht darauf, was es war. Trotzdem erlaubte er ihr nach einer kleineren Diskussion, sich nach vorne zu setzen.

Sie fuhren noch eine halbe Stunde weiter, bis ihm endlich auffiel, was nicht passte. Sagen.
"Hast du ein Handy dabei?"
Ruckartig fuhr ihr Kopf zu ihm. Sie hatten seit sie wieder losgefahren waren kein Wort mehr miteinander gesprochen. "Ähm....Ich-", stotterte sie.
"Jetzt gib' schon her. Es war dir doch eh klar, dass ich das sagen würde."
"Ich würde es dir ja geben, aber ich kann leider nicht", spottete sie und bewegte ihre hinter dem Rücken gefesselten Arme, um darauf aufmerksam zu machen.

Der Junge war verwundert. Eben noch hatte sie vorsichtig gestottert, nun war sie direkt in einen Angriff übergegangen. Wahrscheinlich wusste sie einfach selbst noch nicht, wie sie sich in der Situation verhalten sollte.
"Es ist übrigens in meiner linken Jackentasche", gab sie dann doch nach. Es hätte eh keinen Sinn gemacht und ihr nur Ärger eingebracht.

Er griff nach dem Handy und warf einen kurzen Blick darauf. Der Sperrbildschirm zeigte sie mit einer Freundin, wie sie beide eine komische Grimasse zogen.

"Dein Pin?", fragte er knapp.
"Schau lieber auf die Straße", wich sie einer Antwort aus.
Nun war sie wieder vorlaut. Er wurde wirklich nicht schlau aus dem Mädchen.

Er akzeptierte das trotzdem als Antwort, nahm den Akku aus dem Handy und warf beides aus dem Fenster. Dann drehte er um, wobei er sicherstellte, auch noch einmal über das Gerät zu fahren und suchte dann die letzte Kreuzung, an der sie vorbeigefahren waren.
Auch wenn es ihnen Zeit kosten würde, so nahm er nun den anderen Weg. Falls die Polizei das Signal verfolgt hatte, so wären sie jetzt auf jeden Fall auf der falschen Spur.

"Deinetwegen muss ich jetzt noch länger fahren, um die Fährte von uns zu lenken", sagt er, ohne den Blick von der Straße zu wenden. Warum hatte er nicht früher daran gedacht?
Sie war sich nicht sicher, ob er das sagte, um sie einzuschüchtern oder sie aufzuziehen. Doch sie spielte mit. "Woher willst du wissen, dass ich nicht doch irgendwo noch einen Chip habe? In meinen Schuhen zum Beispiel, ich bin immerhin eine Polizistentochter", sagte sie wie nebenbei.

Ihm fiel sichtlich die Kinnlade hinunter. Damit hatte er nicht gerechnet. Doch schnell fasste er sich wieder. "Und warum würdest du mir das dann sagen?"
"Vielleicht hast du ja recht und ich bluffe nur. Oder ich bluffe doppelt und bin doch gespickt und versuche dich so nur in Sicherheit zu wiegen, wer weiß", lachte sie und lehnte sich zurück. Sie schien es sichtbar zu genießen, dass sie kurzzeitig die Kontrolle übernehmen konnte.

Doch der Junge durchschaute sie schnell und ihm lag gleich eine passende Antwort auf der Zunge, die sie aus der Fassung bringen würde. "Ich kann dich auch dazu bringen, deine ganzen Sachen auszuziehen und du musst nackt weiterfahren."
Jetzt lächelte er wieder siegessicher, während ihre Gesichtszüge entgleisten.

Er hatte ihr gezeigt, wie die Machtverhältnisse aussahen und nutzte den Moment, um ihr die Botschaft zu übermitteln, die er ihr schon von Anfang an hätte sagen sollen. "Hör zu: Wir können das hier auf zwei Unterschiedliche Arten machen. Entweder du bist die Geisel, die geknebelt und gefesselt im Kofferraum landet oder du unterhältst mich. Ich bin auch nicht gerne alleine und du sicher auch nicht."
"Du bist durchgeknallt", erwiderte sie nur, doch er wusste, welche Entscheidung sie getroffen hatte.

"Du kannst mich übrigens James nennen, Anna."

...bis du für die Wahrheit tötestWo Geschichten leben. Entdecke jetzt