V.

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Sie schwiegen, während der Regen um sie herum langsam aufhörte, ihre Ohren zu quälen. Bald schaltete James die quietschenden Scheibenwischer aus, da sie die nicht mehr brauchten.

Immer wieder kreuzten ein paar Autos ihren Weg, aber niemand hielt sie an.

"Bald sind die 24 Stunden vorbei", bemerkte Anna, als sie gerade mal wieder an einer Tankstelle vorbeigefahren waren. "Wir haben nur noch sechs. Wollen wir nicht so langsam mal etwas tun; und wenn es nur Essen kaufen ist? Noch ist es sicher."

James warf einen kurzen Blick zu ihr hinüber. Sie hatte recht, doch es bestand immer noch die große Gefahr, dass sie fliehen würde. Und wenn er sie nicht mehr als Geisel hatte, war er nicht mehr sicher.

"Keine Tricks?", fragte er sie.

"Keine Tricks", bestätigte sie nickend. "Du hast dein Wort gehalten und so lange du das tust, werde ich es auch tun. Bei meiner Ehre. Ich weiß, dass selbst Verbrecher Moralvorstellung haben." Sie grinste, als er sie empört ansah. Doch schließlich gab er sich zufrieden, dass er sich vorerst nicht unbedingt ständig um Anna Sorgen machen müsste. Erstmal könnte er sich um andere Dinge kümmern. Wie es weitergehen sollte zum Beispiel.

"Die nächste Stadt ist nur acht Meilen entfernt", sagte Anna mit einem Blick auf das Straßenschild, an dem sie gerade vorbeirauschten.

James fasste einen Entschluss und fuhr dorthin. Nur wenig später kamen sie an den ersten Häusern vorbei und suchten sich einen Parkplatz in der Stadt. Gemeinsam gingen sie in den nächsten Supermarkt und kauften alle möglichen Gerichte in Dosen und Tüten. Dazu noch mehrere Flaschen Wasser. James hatte natürlich kein Geld dabei, doch im Wagen lag ein wenig, woran sie sich bedienen kontte.

James wollte schon zur Kasse gehen, doch Anna blieb vor dem Regal mit Haarpflegeprodukten stehen.

"Wir haben jetzt echt keine Zeit für Make-Up", lachte er, zerrte aber trotzdem nervös an ihrem Arm. Je länger sie sich in der Öffentlichkeit aufhielten, desto größer wurde die Gefahr, entdeckt zu werden.

Sie hingegen schlug seinen Arm weg und griff nach einer Färbung, die als Kastanien-braun angepriesen wurde. Sie ging ein Stückchen weiter am Regal entlang und griff nach einer dunklen Färbung für Männer. "Schwarz steht dir bestimmt", grinste sie.

"Lass den Mist, Anna. Wir haben da echt keine Zeit für." Er fuhr sich durch sein Haar und sah sich im Laden um. Bisher beachtete niemand das komische Pärchen.

"Aber es könnte uns Zeit verschaffen."

Erst jetzt erkannte James ihren Plan. Warum war er nicht selbst darauf gekommen? Er könnte sich mit der flachen Hand vor den Kopf schlagen.

Trotzdem wurde er misstrauisch. "Warum hilfst du mir?"

"Ich spiele nach deinen Regeln und du hälst dich auch an deine, erinnerst du dich? Je schneller wir weiter weg sind, desto eher lässt du mich gehen. So einfach ist das."

Elegant nahm Anna eine rote eckige Brille von einem Ständer hinunter. Man sah ihr sofort an, wie billig sie war. Dann musterte sie das Regal mit dem Make-up. Bevor sie sich Maskara, Eyeliner, Make-Up und Lippenstift heraussuchte, warf sie James die dunkle Färbung zu.

"So. Meinen Teil habe ich, jetzt liegt es nur noch an dir."

James stand ratlos da, mit der Färbung in seinen Händen und sah an den Regalen hoch und runter. Schließlich entschied er sich, zusätzlich eine Sonnenbrille zu kaufen. Auf dem Weg zur Kasse nahm er sich noch schnell eine dunkle Mütze. Jetzt müssten sie eigentlich genug zur Tarnung haben.

Sie hatten Glück: Das Geld, das sie aus dem Auto mitgenommen hatten, reichte gerade so eben, um alles zu bezahlen. Und die rundliche Kassiererin würdigte sie nicht mehr als eines Blickes. Dann starrte sie wieder auf den Fernseher neben ihr. Wenn sie Glück hatten, würde sie sich gar nicht an sie erinnern.

Und für die nächsten Tage müssten sie nicht unbedingt in eine Stadt und somit in die Nähe von Kameras.

Anna verließ schon den Supermarkt und ging zielstrebig mit der Hälfte der Einkäufe in der Hand zum Auto. James hingegen warf besorgt einen Blick auf die Uhr. Drei Uhr Nachmittags. In wenigen Stunden würde der ganze Bundesstaat von einer Entführungsmeldung erschüttert werden. Er sah jetzt schon die Schlagzeilen vor sich. Verbrecher entführt Schönheit. Krimineller mit Tochter eines Polizisten auf der Flucht. Passen Sie auf ihre Töchter auf, nicht einmal mehr Polizistenkinder sind sicher. Und so weiter ging es.

Sein Blick blieb an der Kamera im Geschäft hängen und er hatte das Gefühl, dem Polizisten, der sich wahrscheinlich Stunden oder Tage später das Video ansehen würde, dirket in die Augen zu sehen. Dann zog er sich seine Kaputze über den Kopf und ging schnell aus dem Geschäft.

Sie durften keine Zeit verlieren.

Anna saß schon am Auto, direkt hinter dem Steuer. Sie war nicht weggefahren, sie war nicht weggelaufen.

James wusste selbst nicht genau, wieso sie mitspielte. Doch im Moment war er einfach nur froh, eine Sorge weniger zu haben.

Er packte die Sachen in den Kofferraum und setzte sich dann auf den Beifahrersitz.

"Du willst also fahren?", stellte er fest.

"Du bist schon viel zu lange gefahren. Jetzt bin ich dran." Sie ließ den Motor starten und jagte aus der Stadt hinaus. "Ob du ohne Führerschein bei dir fährst oder ich so tue, als hätte ich keinen, wo liegt da der Unterschied?"

Sie schwiegen wieder. Anna konzentrierte sich aufs Autofahren, doch nach einiger Zeit waren sie wieder fast alleine auf der Straße.

"Jetzt musst du mich unterhalten", forderte das Mädchen.

"Wie soll ich dich denn unterhalten?", lachte James nervös. Er wusste, dass er, egal welches Thema er ansprach, Informationen über sich preisgab. "Ich bin nicht so der gesprächige Typ."

Anna warf einen Blick zur Seite. "Nein, das bist du nicht. Aber ich glaube, dass du gut unterhalten kannst. So siehst du jedenfalls aus."

James lächelte geschmeichelt, sagte aber trotzdem nichts.

"Dann erzähl mir doch wenigstens etwas von deinen Hobbys. Was soll ich damit schon anfangen?"

Er gab sich geschlagen und fing an zu erzählen. "Ich bin eigentlich ein ganz normaler Junge. Nun gut - war." Er klang kurz gekränkt, fing sich aber schnell wieder. "Ganz okay in der Schule. Und beliebt. Das kann ich jetzt wohl an den Nagel hängen", lachte er. James wollte genauso viel Humor zeigen wie das Mädchen es in schweren Zeiten konnte. "Ich habe in der Schulband Gitarre gespielt und gesungen. Ich habe Football gespielt. Der Freund meiner Mutter hat mich in Karate trainiert. Ich hatte das beste Leben von allen. Richtig durschnittlich. Aber trotzdem super. Ich werde das alles vermissen. Aber vielleicht ist es ja noch nicht zu spät." James' Blick glitt aus dem Fenster und er betrachtete die Landschaft, die an ihnen vorbeizog.

Anna ahnte, dass er gerade nicht in der Stimmung war mit ihr über das zu sprechen, was er alles verloren hatte.

Und sie ließ ihm den Moment, denn sie wusste, dass er das alles nie wiederhaben werden könnte.

...bis du für die Wahrheit tötestWo Geschichten leben. Entdecke jetzt