I.

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Es war genau neun Minuten vor fünf Uhr am Abend als sich die Türen der Polizeistation langsam automatisch öffneten und sie in den Eingangsbereich trat.
Um diese Zeit waren Besucher mehr als untypisch und die Polizeistation war vollkommen leer bis auf die junge Polizistin, die unten am Empfang hockte.

Noch untypischer für die Polizeistation war das junge Mädchen, das eintrat. Die Überwachungskameras erfassten sofort das Bild des jungen dunkelblonden Mädchen. Sie war wohl knapp 1,70m groß. Das konnte man aus den Aufnahmen auch lesen. Auch ihre Kleidung war wichtig. Eine grüne Jacke. Ein einfaches graues T-Shirt mit dem Aufdruck irgendeiner Band. Dazu eine einfache Jeans, die modische Einschnitte hatte. An ihren Füßen trug sie irgendwelche Sportschuhe einer bekannten Marke. Für Amerika würde es also ein ganz normales Mädchen sein. Ein ganz normales Mädchen mit einer tragischen Geschichte.

Auffällig an ihr waren nur die Blumen, die sie mit beiden Händen fest umschlossen hielt. Die Polizistin musterte sie lange und fragte, wie sie helfen könnte. Sie hatte ihre bereits kurzen Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden und ein mürrisches Grummeln war das einzige, was zwischen ihren unfreundlichen Worten ihren Mund verließ.

Das Mädchen ließ sich dadurch allerdings nicht beirren und sagte, dass sie auf ihren Vater wartete. "Wir sind nach seinem Feierabend zum Essen verabredet. Ein richtiger Vater-Tochter-Abend", fügte sie lächelnd hinzu.

Die Polizistin beachtete sie nicht weiter und wandte sich wieder ihrer Arbeit zu, während das Mädchen auf einem der vielen Stühle Platz nahm.
Sie müsste noch genau fünf Minuten warten, dann würde etwas passieren, was ihr Leben verändern sollte.

Stillschweigend saß sie da und überschlug immer wieder ihre Beine, bevor sie sie wieder anders hinstellte. Ihr Blick wanderte durch den Raum, bis sie direkt in eine Überwachungskamera sah. Ihr Gesicht würde in wenigen Stunden der ganze Bundesstaat kennen: Die dezente Nase, die schmalen Lippen, die grün-grauen Augen.

Ihr Blick glitt weiter und blieb an einer großen Uhr hängen. Sie atmete einmal tief durch und bereitete sich vor. Fünf Minuten vor Fünf.
Dann hörte sie schnelle Schritte hinter sich, die direkt auf sie zukamen.
Sie stand auf und drehte sich um.

"Da-." Doch der letzte Buchstabe blieb ihr in der Kehle stecken, als ihr nicht ihr Vater gegenüberstand, sondern ein Junge, der nur einige Jahre älter als sie sein konnte und direkt eine Pistole auf sie hielt. Noch bevor die Frau am Empfang realisieren konnte, was sich abspielte, hatte er das Mädchen geschnappt und hielt ihr die Pistole direkt an den Kopf.

Erschrocken ließ sie die Blumen los und sie fielen einfach auf den Boden. Dann zog er sie von den Blumen weg in Richtung Ausgang, während sie versuchte, ihre Schluchzer zu unterdrücken, damit sie sich so wenig wie möglich bewegen konnte.
Sie versuchte sogar die Luft anzuhalten, denn mit jedem Atemzug wurde sie daran erinnert, dass das kalte Metall direkt an ihrem Kopf war und jedes Luftholen das letzte sein könnte.

Sie konnte sich keine Fehler erlauben.

Plötzlich kamen mehrere Schritte die Treppe hinunter, sie liefen und hatten ihre Waffe gezückt. "Es hat keinen Sinn, Junge. Du kommst doch keine hundert Meter", rief einer die Treppe hinunter.
Doch dann bog er um die letzte Ecke der Treppe und erkannte die Situation.

"Du machst einen großen Fehler, Junge. Leg einfach die Waffe hin und lass das Mädchen los, dann vergessen wir das ganze hier einfach. Deal?", sagte er dann.
Doch der Junge schien gar nicht daran zu denken. "Legt die Waffen hin, ihr alle! Ich möchte ein Auto und nicht verfolgt werden, dann geschieht dem Mädchen auch nichts. Ich gehe jedenfalls nicht ins Gefängnis." Seine Stimme war überraschend ruhig, aber trotzdem bestimmt. Er schrie nicht, wie man es aus Fernsehkrimis kannte, sondern behielt den Überblick über die Lage.

Weitere Polizisten kamen in das Erdgeschoss, während die ersten schon die Waffen hinlegten, so wie er es verlangt hatte, als einer plötzlich einen Mädchennamen rief. "Anna!"
"Dad!", antwortete das Mädchen und sah ihren Vater gleichzeitig freudig und hilflos an.

"Du bist also die Tochter des Polizisten da?", flüsterte er ihr ins Ohr.
Sie nickte zur Antwort nur.
"Jackpot", sagte der Junge mehr zu sich selbst.

"Wird das nun mal was?", rief er wieder und setzte so seine Gegner unter Druck.
Hilf- und ratlos standen die ganzen Polizisten da. So wie geplant. Der Junge begann zu grinsen. Er würde ganz sicher mal wieder gewinnen. Das spürte er jetzt schon.

"Ich habe nicht vor, noch mit euch Kaffee zu trinken. Schafft ihr jetzt den Wagen her oder ist euch das Mädchen hier etwa egal?" Er verstärkte den Griff um das Mädchen, sodass sie leicht aufschrie, um seine Worte zu verdeutlichen. Eine enorme Stille herrschte in der Polizeiwache, bis der vermeintliche Vater vortrat und mit gehobenen Händen ihm einen Autoschlüssel in der einen Hand zeigte.

"Geh voraus und öffne das Auto. Und ihr bleibt alle genau da, wo ihr seid. Keiner rührt sich, oder das Mädchen hat zu leiden."
Das komische Trio ging nach draußen und stellte sich direkt in die Tür, wo der Junge, der die Waffe immer noch auf das Mädchen gerichtet hatte, das er mit sich zog, stehen blieb, um die ganzen Polizisten im Blick zu behalten.

"Wo steht das Auto?", fragte der Junge und schaute schnell zwischen ihm und den anderen hin und her.
Der Vater zeigt auf einen einfachen, silbernen Toyota. "Ist ein Peilsender oder so daran? Denn wenn ich das herausfinde, dann...", droht er und fuchtelt mit der Waffe herum. So langsam wurde er doch nervös, es dauerte alles viel zu lange.
"Nein, keine Sorge. Es ist mein privates Auto. Ich möchte einfach nur meine Tochter zurück."

"Gut. Dann fahr es hierhin und sorg' danach dafür, dass niemand uns folgt."
Der Polizist nickte nur, während er zum Auto ging und den Motor startete.
Das Mädchen wagte erstmals einen Blick auf ihren Bedroher. Sein Profil stellte seine makellose, braun gebrannte Haut dar, die schön geformte Nase, die perfekt geschwungenen Lippen und die brünetten Haare, die er scheinbar genau auf die richtige Länge geschnitten hatte. An den Seiten waren sie nicht zu kurz und oben lang, um sie hochzugeelen. Doch jetzt standen sie nur wild durcheinander.
Würde nicht so ein genauso wildes wie verbissenes Lächeln seine Gesichtszüge verzerren, könnte man ihn bestimmt als sehr attraktiv bezeichnen.

Als seine dunkelbraunen Augen ihren Blick auffingen, huschte ihrer schnell wieder zurück. Jede falsche Bewegung, jeder falscher Blick konnte ihr das Leben kosten.
Es könnten die Augen eines Mörders sein.

Doch dann stand schon wieder ihr Vater vor ihr und nickte ihr zu. Die Fahrertür hatte er offen stehen gelassen und der Schlüssel steckte noch in der Zündung des laufenden Wagens.
"Kann ich jetzt meine Tochter zurück haben? Ich verspreche auch, dass ich dafür sorge, dass du entkommen kannst."

Der Junge mustert ihn kurz, zieht dann aber das Mädchen zum Auto. "Ich glaube wirklich, dass du das tun wirst. Vor allem, wenn du das Leben deiner Tochter in Gefahr siehst. Deshalb werde ich sie irgendwo aussetzen; keine Sorge, ich sage schon rechtzeitig, wo das ist", lachte er aus vollem Hals. Er schien verrückt zu sein. "Darf ich bitte die Handschellen und den Schlüssel dazu?"
Widerwillig wollte der Polizist die geforderten Sachen übergeben, als der Junge es sich anders überlegte und nur den Schlüssel annahm. "Nein, besser: Leg ihr selbst die Handschellen an."
Der Junge hatte spürbar Spaß an seiner Machtposition.

Traurig tat der Vater das, was von ihm gefordert war, doch versuchte er die Handschellen wenigstens so locker wie möglich zu machen. Jede Bewegung stand unter Beobachtung und die Waffe war immer noch auf das Mädchen gerichtet.

In der Polizeistation selbst hatte noch keiner gewagt, sich zu bewegen. Alle schienen die Luft anzuhalten und abzuwarten, was passieren würde. So eine Stille hatte man dort noch nie gesehen.

Unter Tränen wurde sie gezwungen, sich mit dem Kopf nach unten auf die Rückbank zu legen. So würde sie nicht sehen, wohin die Fahrt ging.
Der Junge selbst setzte sich hinter das Steuer, behielt die Waffe aber immer noch in der Hand.

Er wiederholte noch seine letzte Anweisung, bevor er die Tür schloss und einfach losfuhr.
"Ich möchte nicht verfolgt werden. Und deine Tochter bestimmt auch nicht. Gebt uns 24 Stunden Vorsprung, dann passiert ihr auch nichts."

Immer und immer wieder schaute er in den Rückspiegel. Bisher schienen die Polizisten seine Anweisungen zu befolgen.
Er versuchte sich auf den Verkehr zu konzentrieren und zwischen dem ganzen Gehupe, die Schluchzer, die von der Rückbank kamen, zu ignorieren.

...bis du für die Wahrheit tötestWo Geschichten leben. Entdecke jetzt