5 - Newt

96 12 0
                                    

   Seitdem Newt an diesem Morgen von dem knarrenden Geräusch, der sich öffnenden Tore, aus einem tiefen traumlosen Schlaf gerissen worden war, streifte er durch den dichten Wald und rief nach seiner Schwester. Es war ein Wunder, dass ihm bisher keines der anderen Tribute begegnet war, denn er machte sich mehr oder minder zu einer laufenden Zielscheibe. Beziehungsweise zu einer stolpernden und humpelnden Zielscheibe.
   „Sonya!"
   Er war verzweifelt, denn er wusste nicht, ob sie noch lebte. Hatte ihr Gesicht bereits gestern vom sternenlosen Himmel auf ihn herabgeschaut? War ihr in der Nacht etwas zugestoßen, während er, nutzlos wie er war, ohnmächtig am Boden gelegen hatte? Was hatte es mit den Toren auf sich und was war den Tributen widerfahren, die es nicht rechtzeitig aus dem Labyrinth geschafft hatten?
   Seine Sorge und der Hunger machten ihn leichtsinnig und so bemerkte er die Gestalten nicht, die sich ihm näherten. Als er sie hörte, war es zu spät zum Umkehren. Genauso gut würde er sich ihnen stellen können. Er hatte nichts mehr zu verlieren und wenn er nicht bald etwas Nahrung auftrieb, würde er ohnehin vor Schwäche sterben. Sein Lebensmut befand sich im freien Fall. Vielleicht war es besser, das Ganze schnell zu beenden.
   Gerade wollte er erneut nach ihr rufen, da packte ihn jemand von hinten und erstickte seinen überraschten Aufschrei, indem er ihm die Hand auf den Mund presste. Der andere war kaum größer als er, aber um einiges kräftiger. Zumindest in dem geschwächten Zustand, in dem Newt sich eben befand. Er unterdrückte den Impuls, sich zu wehren, und betete, dass der andere ihn schnell von seinen Qualen erlösen und das Unvermeidliche nicht unnötig in die Länge ziehen würde.
   „Sei still", wisperte der Junge nah an seinem Ohr, dann zog er ihn rückwärts durch die dichten Bäume, bis sie hinter einem Felsvorsprung Deckung fanden und verstärkte den Griff um Newts Mitte, als dessen linkes Bein drohte nachzugeben.
   Kaum waren sie hinter dem Felsen verschwunden, kamen zwei der Karrieros dicht an ihnen vorbei. Der Junge hinter ihm hielt den Atem an. Newt konnte beobachten, wie der männliche Karriero im Vorübergehen mit seiner Machete auf Brennnesseln und niedrige Äste einschlug. Das Mädchen trug einen Speer bei sich. Sie bemerkten Newt und den anderen in ihrem Versteck nicht und zogen weiter. Eine kleine Metallkreatur mit einem silbernen, zylindrischen Körper krabbelte auf Kopfhöhe neben ihnen auf dem zerklüfteten Felsen. Auf seinem Rücken konnte Newt das Wort „WICKED" lesen, die Inschrift war verschmiert und es wirkte, als wäre sie mit Blut geschrieben. Aus dem Auge des Käfers strahlte ein blendendes rotes Licht. Die Spielemacher beobachten sie.
   „Ich werde dich jetzt loslassen, ich rate dir, lass mich das nicht bereuen."
   Tatsächlich ließ er von ihm ab und trat einen Schritt beiseite. Mit Entsetzen erkannte Newt den braunhaarigen Karriero aus Distrikt 2. Seine erste Eingebung war Flucht, aber er kam nicht weit.
   Der andere hatte ihn mit zwei Schritten eingeholt, am Handgelenk gepackt und zurück zwischen die Felsen gezogen.
   „Was ist los mit dir? Legst du es drauf an, umgelegt zu werden?"
   „Lass mich los", knurrte Newt. Der Karriero hob beide Hände vor die Brust, als Newt sich nicht entspannte, löste er seine Machete vom Gürtel und legte sie zwischen ihnen auf den Boden.
   „Ich bin Thomas", stellte er sich vor. Newt begegnete seinem Blick mit einem Stirnrunzeln.
   „Du bist einer von ihnen", erwiderte er knapp und reckte sein Kinn in die Richtung, in die die beiden anderen Karrieros verschwunden waren.
   „Stimmt, aber..."
   „Hau ab!" Newt spürte Wut in sich aufsteigen. Wie konnte dieser Junge es wagen, seine Zeit zu verschwenden. Er wollte Sonya suchen, oder die Kehle aufgeschlitzt bekommen, es war ihm gleich. Was er nicht wollte, war mit diesem Thomas in einem engen Felsspalt zu stehen und seine Luft atmen zu müssen. Aber dieser Mistkerl reagierte nicht. Mit seinen großen braunen Augen sah er ihn unentwegt an, wie konnte er nur so verdammt unschuldig aussehen?
   „Sind wir uns schon mal begegnet?", fragte er und blinzelte zum ersten Mal seit einer gefühlten Ewigkeit.
   „Du meinst, abgesehen von den letzten Tagen im Trainingscenter? Ich glaube nicht." Newt verschwieg ihm den Kuss, an den Thomas sich offensichtlich nicht mehr erinnerte. Das war das Letzte, über das er jetzt reden wollte.
   „Tom? Wo steckst du? Thomaaaaas?" Die Stimmen waren noch ein Stück entfernt, aber sie näherten sich schnell. Kurz glaubte Newt Panik im Gesicht des Jungens vor ihm zu registrieren, dann fasste er sich jedoch wieder.
   „Du solltest deine Freundin besser nicht warten lassen, Tommy."
   Wortlos bückte sich Thomas nach der am Boden liegenden Machete. Jetzt war es so weit, gleich würde er ihn töten. Er zögerte, Newt wich vor ihm zurück, dann streckte der Karriero ihm die Machete mit dem Griff zuerst entgegen. Verwirrt runzelte Newt die Stirn.
   „Nimm sie und pass auf dich auf."
   Zögerlich nahm er die Waffe und Thomas trat zwischen den Felsen hindurch. Er verschwand einfach so und Newt konnte sich keinen Reim darauf machen. Warum zur Hölle war er noch am Leben? 

The Maze Games | GermanWo Geschichten leben. Entdecke jetzt