4 - Thomas

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   Er saß teilnahmslos am Rand der Box und betrachtete die Machete in seinen Händen. Aris, Rachel und Teresa lachten ausgelassen, während sie den Reichtum des Füllhorns untereinander aufteilten. Sie benahmen sich, als würde die Lichtung ihnen gehören, was sie vermutlich auch tat, aber Thomas teilte ihr Hochgefühl darüber nicht.
   Drei tote Tribute lagen zwischen ihnen und er brachte es nicht einmal übers Herz, in die Richtung ihrer Leichen zu schauen, während die anderen so taten, als wären sie gar nicht da. Wieder kämpfte er mit der aufsteigenden Übelkeit, aber es war nichts mehr übrig, dass er hätte erbrechen können.
   Theresa Mitleid für ihn hatte sich am Morgen in Grenzen gehalten. Er hatte sie enttäuscht und er wusste nicht einmal mehr, was er am Vorabend zu ihr gesagt hatte, das sie dermaßen verärgert hatte. Generell war seine Erinnerung an die letzte Nacht sehr verschwommen. Sich am Abend vor den Hungerspielen zu betrinken, war vermutlich ein neues Tief.
   Er wusste nicht, was er auf dem Flur vor seinem Zimmer gesucht hatte, aber dort hatten ihn zwei Avox heute früh gefunden und stumm auf sein Zimmer eskortiert. Anschließend hatte Thomas einen Großteil der Zeit bis zum Beginn der Spiele im Badezimmer verbracht. Man hatte ihm zwar eine klare Flüssigkeit zu trinken gegeben, die seine Kopfschmerzen und den Brechreiz unterdrückten, aber entweder hatte diese aufgehört zu wirken, oder – und das war wahrscheinlicher – ihm schlug seine aktuelle Situation auf den Magen. Seit seinem Eintritt in die Arena hatte er sich bereits vier Mal übergeben. Teresa sorgte sich darum, welchen Eindruck das auf ihre potentiellen Sponsoren machen würde, aber es gab nichts, das Thomas weniger scherte.
   Gedankenverloren drehte er die Machete in seinen Händen. Er hatte sie sich nicht verdient. Während des Countdowns hatte er darüber nachgedacht, seine Moralvorstellungen fallenzulassen. Ein zuvor unbekannter Überlebenswille hatte von ihm besitzergriffen. Den Blick fest auf das Füllhorn gerichtet, sah er sich schon darauf losstürzen und den Inhalt gegen seine Mitstreiter verteidigen. Doch dann hatte der Countdown geendet und während um ihn das Chaos ausgebrochen war, war es ihm unmöglich gewesen, sich zu bewegen.
   Die anderen Tribute waren von ihren Podesten gesprungen und hatten sich in die verschiedenen Himmelsrichtungen verteilt. Die wenigsten hatten es auf das Füllhorn abgesehen gehabt, was Thomas überrascht hatte. Das erste, was er über die Hungerspiele gelernt hatte, war, dass man schon verloren hatte, wenn es einem nicht gelang, etwas aus dem Füllhorn zu ergattern. Und wenn es nur ein kleines Jagdmesser war. Das Füllhorn war der Grund, dass Jahr um Jahr ein Karriero als Sieger aus den Spielen hervorging. Natürlich halfen ihnen auch ihr jahrelanges Training und die Erfahrung im Umgang mit Waffen dabei, aber Thomas war davon überzeugt, dass auch der beste Karriero ohne das Wasser und die Nahrung aus dem Füllhorn früher oder später aufgeschmissen wäre.
   Ein großer muskulöser Junge mit asiatischen Gesichtszügen hatte das Füllhorn als erstes erreicht. Sein Name war Minho, Distrikt 3. Thomas hatte versucht, sich ihre Namen nicht zu merken, das würde es nur schwerer machen, ihnen beim Sterben zuzusehen, aber er kannte sie alle. Ein Grund mehr, sich von den Leichen im Gras fernzuhalten.
   Minho hatte sich mehrere Dinge aus der Box geschnappt und war dann, ohne seine vorteilhafte Position am Füllhorn auszunutzen und ohne seine Waffen gegen eines der anderen Tribute zu erheben losgesprintet. An einem der vier Tore in den hohen Wänden der Lichtung hatte ein Mädchen mit kurzen braunen Haaren auf ihn gewartet. Thomas konnte ihr Gesicht nicht erkennen, aber er vermutete, dass es sich um Brenda handelte, seine Distriktpartnerin.
   Erst, als die anderen drei Karrieros ihre Feinde niedergemetzelt oder in die Flucht geschlagen und drei Kanonenschüsse das Ende des Blutbades verkündet hatten, war es Thomas gelungen, sich aus seiner Starre zu lösen. Dann war er von seinem Podest geklettert und hatte sich übergeben.

   „Wie lange möchtest du da noch rumsitzen? Komm her und hilf uns, Tom!" Teresa war aufgedreht, das erkannte er nicht nur an der schrillen Stimme, in der sie sprach, sondern auch an der Art wie sie lachte und über die Lichtung hüpfte. Thomas mochte es eigentlich, wenn sie so drauf war. Zuhause, in Distrikt 2, versprach es Abenteuer und durchgefeierte Nächte. Hier erschien es ihm unpassend. Wie konnte er sich so in ihr getäuscht haben? Aber durfte er ihr Vorwürfe machen? Hatte er sich nicht vielmehr bereitwillig täuschen lassen, während sie ihm wieder und wieder von den Hungerspielen vorgeschwärmt und ihm ihre Absichten mehr als deutlich offengelegt hatte?
   „Tom!"
   Langsam stand er auf und gesellte sich zu den anderen. Aris und Rachel waren gerade dabei ein Festmahl aus Brot, Dosenbohnen und einem undefinierbaren Stück Fleisch zuzubereiten. Thomas bezweifelte, dass er etwas davon runterbekommen würde, aber vielleicht sollte er es zumindest versuchen. Teresa durchwühlte die Rucksäcke aus dem Füllhorn nach brauchbaren Gegenständen. Vor ihr türmten sich drei Haufen. Einer mit gefüllten Wasserflaschen und Essbarem, einer mit Schlafsäcken, Decken und anderem, dass ihnen nützlich sein könnte, sowie der letzte und größte mit Waffen. Thomas fand, dass die Haufen recht gut verdeutlichten, um was es hier ging, nämlich nicht ums Überleben, sondern ums Töten.
   Sie aßen schweigend und Thomas wurde das Gefühl nicht los, dass er den anderen die Laune verdarb. Gut so, dachte er grimmig.
   Als ihre ruhige Mahlzeit unverhofft von höllischem Lärm unterbrochen wurde, war er der einzige, der nicht sofort seine Waffe zog. Er hatte sich zwar nicht minder erschrocken, als die gigantischen Tore in den Wänden knarrend und knackend begannen, sich aufeinander zuzubewegen und schließlich mit einem gedämpften Schlag versiegelten, aber er hoffte, dass das, was dieses Geräusch verursachte, seiner Existenz ein Ende bereiten würde. Als nichts weiter geschah, war er fast enttäuscht. Würde es doch Teresa sein, die ihm am Ende ihren Speer in das Herz rammen würde?
   Nach diesem Zwischenfall ließen die anderen ihre beinahe unberührten Teller stehen und machten sich daran, die Wände und ihre Tore zu inspizieren. Thomas, der ohnehin keinen Appetit hatte, schloss sich ihnen an.
   „Was glaubt ihr, warum sie sie verschlossen haben?", fragte Rachel und wenn Thomas es nicht besser wüsste, hätte er schwören können, dass sie verängstigt klang.
   „Vielleicht, um uns einzusperren?", schlug Aris vor. „Um den anderen Tributen eine kurze Verschnaufpause von uns zu gönnen?"
   Am liebsten hätte Thomas ihm sein triumphierendes Lächeln mit der Faust aus dem Gesicht gewischt. „Das ist einleuchtend", erwiderte er ironisch und ging ein Stück weiter, um die Stelle näher zu betrachten, an der die beiden Seiten der verschlossenen Tore aufeinandertrafen.
   Die Kanone feuerte und die vier Karrieros hielten inne. Gerade, als sie sich wieder ihrer Aufgabe widmen wollten, feuerte sie abermals.
   „Was auch immer sich hinter diesen Toren verbirgt, ich bin froh, auf dieser Seite zu stehen", sagte Aris mit einem nervösen Lachen.
   Sie umrundeten die Lichtung ganze fünf Mal und betasteten dabei jedes erreichbare Stück der rauen kalten Steinwände. Sie waren vollkommen und ohne eine Schwachstelle verschlossen worden. Niemand würde auf die Lichtung gelangen, aber auch keiner von ihnen nach draußen. Letzteres hätte Thomas unter anderen Umstände beunruhigt. Er hasste es eingesperrt zu sein. Aber letztlich war die Arena im Grunde auch nichts anderes, als ein großes Gefängnis.
   „Wir sollten essen und uns dann schlafen legen", bestimmte Teresa schließlich. „Ich habe so eine Ahnung, dass sich die Tore früher wieder öffnen werden, als uns lieb ist, und wir sollten die Zeit nutzen, die uns bleibt."
   „Ich finde trotzdem, dass mindestens einer Wache halten sollte, solange die anderen schlafen. Auch wenn die Tore verschlossen sind, ich traue der Sache nicht."
   Teresa warf Aris einen vernichtenden Blick zu. „Selbstverständlich wird jemand Wache halten."
   Thomas war als erster an der Reihe, aber es war ihm gleich. Mit der Dunkelheit war auch die Kälte gekommen und so saß er in mehrere Decken gewickelt an dem Feuer, während die anderen sich in ihre Schlafsäcke zurückzogen. Kurz darauf ertönte die Hymne des Kapitols und am schwarzen Nachthimmel erschienen die Gesichter der gefallenen Tribute. Thomas schloss die Augen und dachte an die leblosen Körper, die immer noch nicht weit von ihnen am Boden lagen.
   Kurz bevor Aris ihn ablöste kam das Hovercraft. Es war so leise, dass Thomas es sah, bevor er es hörte. Es schwebte einen Moment über den toten Tributen, dann zog es eines nach dem anderen in sein Inneres.

   Teresa sollte Recht behalten. Kurz nachdem die falsche Sonne über der Lichtung aufgegangen war, öffneten sich die vier großen Tore unter lautem Dröhnen und die Karrieros versammelten sich unschlüssig in der Mitte der Lichtung.
   „Also, wie sieht der Plan aus", fragte Aris und biss nebenbei in einen Apfel.
   „Ich würde vorschlagen, wir warten erst einmal ab", schlug Rachel vor. „Es ist ziemlich wahrscheinlich, dass die anderen früher oder später versuchen werden, an das Füllhorn zu kommen."
   „Also ich werde nicht tatenlos hier rumsitzen und mir den ganzen Spaß entgehen lassen", schmollte Teresa. „Ich will sehen, was sich hinter den Wänden verbirgt."
   „Wir wissen nicht, wann sich die Tore das nächste Mal schließen... was ist, wenn wir nicht rechtzeitig zurückkommen?"
   „Man, Rachel. Wir sind nicht hier, um Urlaub zu machen. Wenn wir es uns zu bequem machen und nicht bald anfangen, ein paar Tribute zu jagen, wird den Spielemachern zu langweilig und sie lassen sich etwas anderes einfallen um uns zu beschäftigen", sagte Aris und warf den nur halb gegessenen Apfel in die restliche Glut des Feuers.
   „Also dann, gehen wir jagen!", jubelte Teresa.
   „Rachel hat allerdings nicht Unrecht, einer sollte hier bleiben und unsere Sachen bewachen", wand Aris ein.
   „Das kann ich übernehmen", meldete sich Thomas sofort.
   „Auf gar keinen Fall!", erwiderte Aris. „Dich lasse ich nicht aus den Augen, mein Freund. Du kommst mir ganz schön komisch vor, seitdem wir die Arena betreten haben. Rachel macht das."
   Und so blieb Thomas keine andere Wahl, als Teresa und Aris auf ihrer Jagd zu begleiten.

   Hinter den Toren verbarg sich ein Labyrinth. Er wusste nicht, was er erwartet hatte, aber das war es nicht gewesen. Sie hatten jedes der Tore noch einmal im Tageslicht begutachtet und sich dann für eines entschieden. Thomas glaubte zwar nicht, dass es einen großen Unterschied machte, durch welches Tor sie die Lichtung verließen, aber er behielt seine Gedanken für sich.
Auch Aris und Teresa liefen schweigend durch die hohen Gänge des Labyrinths. Vielleicht war ihnen auch ein wenig mulmig zumute.
   „Wir gehen einfach immer rechts rum, dann sollten wir irgendwann irgendwo hinkommen", sagte Aris.
   „Das klingt vielversprechend", erwiderte Thomas trocken.
Doch tatsächlich dauerte es keine viertel Stunde, da hatte Aris Strategie sie zu einem Ausgang – beziehungsweise Eingang, abhängig davon, auf welcher Seite man stand – geführt. Sie gelangten in einen dichten Wald, der viel mehr Deckung bot, als die kahle Rasenfläche der Lichtung.
   „Jackpot!", rief Aris. „Hier verstecken sie sich also die ganze Zeit."
   Auch Teresa hatte Blut geleckt und so schlugen die beiden sich grölend durch das Dickicht. Thomas ließ sich ein Stückzurückfallen, was sie die anderen nicht zu bemerken schienen. Sie waren so laut, dass jedes Tribut im Umkreis von einem Kilometer sie würde hören können. Aber das war wohl ihre Absicht. Thomas hoffte inständig, dass die anderen Tribute sich von dem offenkundigen Hohn in den Stimmen der Karrieros nicht würden provozieren lassen.
   Aber dann hörte er eine weitere Stimme nicht weit entfernt, eine, die weder zu Aris, noch zu Teresa gehörte. Thomas bewegte sich seitlich, weg von seinen Gefährten und der fremden Stimme entgegen, vielleicht konnte er diesen Idioten warnen, bevor es zu spät war.
   Und dann sah er ihn. Es war der blonde Junge aus Distrikt 9 – Newt – und er schien ganz offensichtlich nicht zu bemerken, in welche Gefahr er zu stolpern drohte.

The Maze Games | GermanWo Geschichten leben. Entdecke jetzt