10 - Newt

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   Der Ast, den Thomas für sie ausgesucht hatte, war breit genug, um bequem darauf zu sitzen, jedoch drehte sich Newt der Magen um, bei dem Gedanken, hier schlafen zu müssen. Er hatte nicht unbedingt Höhenangst, aber nach dem Ereignis, dem er sein schwaches Bein verdankte, fühlte er sich so weit über dem Boden einfach nicht wohl. Während er mit dem Rücken gegen den Stamm gepresst, verharrte, war Thomas ein Stück weiter geklettert und begann, das Lager aufzuschlagen.
   Stimmen erklangen, Newt konnte nicht sagen, aus welcher Richtung sie kamen, aber er registrierte, dass es eine weibliche und eine männliche waren. Das Mädchen und der Junge lachten zu laut, zu unbeschwert für diesen Ort.
   Auf einmal saß Thomas dicht vor ihm, er hatte ihn nicht näher kommen hören, so leise bewegte er sich. Er legte den Zeigefinger an die Lippen und bedeutete Newt, still zu sein. Dieser nickte knapp und zwang sich, den Blick vom Gesicht des anderen abzuwenden.
Kurz darauf liefen ein hübsches schwarzhaariges Mädchen – Tommys Partnerin aus Distrikt 2 – und der Schwarze Junge, den sie an diesem Tag schon einmal gesehen hatten, direkt unter ihrem Baum entlang. Etwas im Ausdruck seines Gegenübers veränderte sich, aber Newt vermochte es nicht zu deuten. Regungslos warteten sie darauf, dass die beiden Tribute im Unterholz verschwanden. Dann lauschten sie auf weitere Geräusche, aber alles war still.
Newt war nicht klar gewesen, dass er die Luft angehalten hatte, bis Thomas sich endlich ein wenig zurückzog und er wieder frei atmen konnte. Wortlos reichte er ihm die Aluminiumflasche, die Newt zur Hälfte leerte, bevor ihm in den Sinn kam, dass Thomas vielleicht auch etwas trinken wollte. Sofort wollte er ihm die Flasche zurückgeben, aber Thomas schüttelte nur den Kopf und lächelte ihn schief an. Newt spürte, wie er rot wurde.
   Als die Hymne ertönte, wurde ihm übel. Ein schlechtes Gewissen quälte ihn, weil er den Tag über so mit sich selbst beschäftigt gewesen war, dass er kaum an seine Schwester gedacht hatte. Er sollte nach ihr suchen, stattdessen lief er Thomas hinterher und zerbrach sich den Kopf darüber, ob dieser sich noch an den Kuss erinnerte, oder nicht.
   Das Gesicht eines Jungens namens Clint, Distrikt 7, erschien am Nachthimmel und Erleichterung überkam Newt. Es war abscheulich, dass ihn der Tod eines anderen so wenig berührte, aber es bedeutete, dass er immer noch hoffen konnte, dass Sonya irgendwo in dieser Arena war. Am Leben.
   Er wusste nicht, welches Schicksal sie ereilt hatte, aber an das bisschen Hoffnung, das ihm blieb, klammerte er sich mit aller Kraft.
   Thomas hantierte an dem Schlafsack herum und begann, sich mit einem Seil an dem Ast zu fixieren.
   „Komm her, damit ich dich auch festbinden kann."
   Newt schüttelte energisch den Kopf, was Thomas, der mit dem Rücken zu ihm saß, natürlich nicht sehen konnte. Wie stellte er sich das auch vor? Sollten sie sich den Schlafsack etwa teilen? Wie sollten sie beide nebeneinander auf dem Ast platzfinden und wollte er sie aneinanderbinden? Die Vorstellung versetze ihn in Panik und er dachte an den Morgen zurück, als er dicht neben Thomas aufgewacht war.
   Es war nicht die Nähe des anderen, die ihn abschreckte. Wenn er ehrlich zu sich selbst war, sehnte er sich sogar danach. Im Grunde war es die Bedeutung dessen, die ihn ängstigte.
   Dies war nicht der richtige Zeitpunkt für solche Gefühle. Er konnte sein Herz nicht an jemanden verlieren, den er früher oder später würde verraten müssen. Und das war, worauf es hier hinauslaufen würde. Er hatte sich geschworen, seiner Schwester zum Sieg zu verhelfen – was ihm auch so schon aussichtslos erschien – da fehlte es ihm gerade noch, sich um eine zweite Person in der Arena zu sorgen. Diese Art der Ablenkung konnte er wirklich nicht gebrauchen. Zumal absolut nichts dafür sprach, dass Thomas ähnlich empfand.
   „Kommst du?"
   „Nein, ich sitze hier ganz gut, danke."
   Fast erwartete Newt, dass Thomas mit ihm argumentieren würde, aber er zuckte bloß mit den Schultern und zog eine letzte, kompliziert aussehende Schlaufe fest. Dann warf er ihm die Decke zu, die Newt dankbar um sich schlang. In der Dunkelheit konnte er die Umrisse von Thomas in dem Schlafsack bloß noch erahnen, er wirkte wie ein Teil des Astes und vermutlich würde man ihn von unten überhaupt nicht entdecken.
   Trotz der Decke fror er bitterlich und nach einer gefühlten Ewigkeit – wie viel Zeit war vergangen? Eine halbe Stunde, eine Stunde, zwei? – wurde der Gedanke sich mit Thomas einen Schlafsack und somit auch die Körperwärme zu teilen immer verlockender, aber Newt war zu stur um sich das einzugestehen. Außerdem wollte er Thomas nicht wecken.
   „Das Mädchen... ihr Name ist Sonya, richtig?", fragte Thomas unvermittelt in die Stille hinein.
   „Sonya", bestätigte Newt mit klappernden Zähnen.
   „Gut. Ich werde dir helfen Sonya zu finden." Newt wusste nicht, was er auf diese Proklamation erwidern sollte. „Wenn sie noch lebt, dann finden wir sie", bestärkte Thomas sein Versprechen.
   Newt wollte ihm so gerne vertrauen. Eigentlich vertraute er ihm längst. Und das war ein Problem.
   „Hast du vor, die ganze Nacht da zu sitzen? Nicht, dass du dich gleich wieder unterkühlst. Die Sponsoren schicken uns sicherlich kein zweites Mal fiebersenkende Medikamente." Die Bemerkung irritierte Newt.
   „Sponsoren haben mir Medizin geschickt?" Er runzelte die Stirn, was Thomas natürlich nicht sehen konnte.
   „Also eigentlich haben sie mir die Medizin geschickt", stellte Thomas richtig.
   „Was haben deine Sponsoren davon, dir Medizin für einen Kontrahenten zu schicken?" Irgendwie war er die ganze Zeit davon ausgegangen, dass Thomas die Ampulle mit der widerlich schmeckenden Flüssigkeit im Füllhorn gefunden hatte.
   „Keine Ahnung, Newt. Aber sie haben es getan und deshalb solltest du sie lieber nicht verärgern, indem du deine Gesundheit gleich wieder aufs Spiel setzt. Jetzt komm endlich her."
   Zögerlich kam Newt der Aufforderung nach „Ich... ich kann nichts sehen", flüsterte er unsicher.
   „Oh, Shit. Moment."
   Er konnte hören, wie Thomas den Reißverschluss des Schlafsacks öffnete und an den Seilen rumhantierte.
   „Hier, nimm meine Hand und versuch dich am Ast entlang zu hangeln."
   Das war einfacher gesagt, als getan, aber nach einigen vergeblichen Versuchen erreichte er die ausgestreckte Hand und Thomas zog ihn neben sich. Oder besser gesagt, halb auf sich, denn der Ast war zwar breit, aber so breit dann auch wieder nicht. Es war ihm unangenehm, aber jetzt gab es kein Zurück mehr. Er wusste nicht, welche Furcht schwerer wog, die abzustürzen, oder die, Thomas zu berühren. Jedenfalls traute er sich kaum, sich zu bewegen.
   Irgendwie schafften sie es, Newt in den Schlafsack zu manövrieren, der sich erstaunlicherweise auch mit zwei Personen darin noch schließen ließ.
   Thomas lag mit dem Rücken zu Newt, während er das Seil erneut sicherte.
   „Gute Entscheidung", murmelt Thomas.
   „Danke", sagte Newt, dem in diesem Moment klar wurde, wie viel Thomas in den letzten vierundzwanzig Stunden für ihn getan hatte. Egal, was er versuchte sich einzureden, es war zu spät. Trotz der Sicherheit der Seile war er gefallen und Thomas würde ihn nicht auffangen. Es blieb nur zu hoffen, dass sein rasendes Herz ihn nicht verriet.
   „Schlaf gut, Newt."
   „Du auch, Tommy."


The Maze Games | GermanWo Geschichten leben. Entdecke jetzt