Kapitel 2

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Die Leiche war männlich, Mitte 20 und hatte keine Augen. Trotzdem sah sie auf den ersten Blick beinahe friedlich aus. Weder Blut lief über die blasse, mit Sommersprossen gespickte Haut, noch waren Knochen gebrochen oder Prellungen zu erkennen. Die krausen Hare rochen noch nach Seife – süß, wenn auch nicht künstlich. Einzig und allein vier kleine Hämatome zeichneten sich unterhalb des Kiefers und nahe des linken Ohres ab. Und dann waren da die leeren Augenhöhlen. Mit Sand gefüllt.

Unsere Protagonisten hatten ein Taxi zu der Grundschule nahe Southwark genommen. Es war Samstag und das Gebäude, dessen gelbe Fassade sich über die Jahre in die gleiche immer dicker werdende Schicht von Schmutz wie der Schulhof gehüllt hatte, schien in der herannahenden Abenddämmerung wie ausgestorben. Nur die wenigen Schaulustigen, die sich um die Polizeiwagen getummelt hatten, boten Grund dafür den Tatort abzusperren. Ein Constable hatte sich gerade mit dem im Wind flatternden Plastikband an die Arbeit gemacht, als sie Lestrade in die kleine Turnhalle gefolgt waren.

Die schwere Tür hatte lautstark geknarzt und in dem Bau lag der Geruch nach Schweiß in der abgestandenen Luft. Obwohl kaum Licht durch die verdreckten Milchglasfenster fiel, konnte man den Staub vor ihnen tanzen sehen. In den Kratzern des Gummibodens und an den abgewetzten Schlaufen der Matten ließen sich Spuren von den Generationen unglücklicher Kinder wiederfinden, die hier Unterricht gehabt hatten. Doch der Niedergeschlagenheit zu trotz, hatte noch nie ein Mord die Geschichte des Gebäudes besudelt. Das heißt: Bis zu diesem verregneten Sonnabend nicht.

„Eine der Putzkräfte hat den armen Kerl heute Nachmittag gefunden. Ich dachte, er sieht vielversprechend für Sie aus."

Detective Inspector Lestrade ließ mit dieser Bemerkung natürlich vollkommen außer Acht, dass er schon durch die Beschreibung der Leiche, die ihnen die geschockte Putzfrau geliefert hatte, eine heillose Verwirrung bei Scotland Yard gewittert hatte, welche früher oder später eintreten würde. Doch Holmes schien an diesem Tag gnädig, sodass er der Versuchung genau das vor allen zu erläutern widerstand und nur ein leises „Danke" murmelte, welches vom entfernten Prasseln des Regens beinahe verschluckt wurde, bevor er sich neben die schlaksige Gestalt hockte.

Die Hände des Jungen waren beinahe sorgsam auf seinem Bauch zusammengefaltet, weshalb er sie vorsichtig auseinanderschieben musste. Der Körper hatte bereits jegliche Wärme verloren, doch die Haut war immer noch unglaublich weich. Vermutlich hatte er sie oft eingecremt. Was allerdings nicht gegen die vernarbten Knöchel geholfen hatte. Seine Nägel waren regelmäßig gefeilt worden, jedoch nicht professionell. Wahrscheinlich, da es an Geld fehlte. Außerdem hatten sich Reste von Kleber unter ihnen festgesetzt. An einer Seite des linken Mittelfingers hatte sich Hornhaut gebildet und es zeichneten sich kleine Narben und ein paar frischere Einschnitte an allen Fingern bis auf den Daumen ab.

Mit einer sicheren Bewegung griff Sherlock in die linke Hosentasche und zog zwei Preisaufkleber und eine Bahnfahrkarte heraus. Die Aufkleber waren halbherzig zusammengeknüllt. Dennoch konnte man die handgeschriebenen Preise von 9.99£ und 16.99£ gut erkennen. Die Fahrkarte war am selben Tag am Piccadilly Circus gezogen worden. Sherlock suchte auch noch die anderen Taschen nach Wechselgeld ab, fand jedoch keines.

Um die entstellten Augen herum war kein einziger Tropfen Blut zu entdecken und die Haut hatte keinen Schaden davongetragen. Der Sand war unglaublich fein und seine Kristalle glänzten im spärlichen Licht der Neonröhren.

Trotz des heißen Sommers, der in diesem Jahr über die Stadt hergefallen war, war seine Haut durch und durch blass. Die Sohlen der schwarzen Stiefel waren abgelaufen und ihr Leder wies an den Schuhspitzen nur noch ein blasses Grau auf. Der Detektiv zog den verwaschenen Stoff des einen Hosenbeines etwas hoch und grinste, als er das Tattoo erblickte.

"All human beings, as we meet them, are commingled out of good and evil: and Edward Hyde, alone, in the ranks of mankind, was pure evil."

~Robert Louis Stevenson, The strange case of Dr. Jekyll and Mr. Hyde

Mr. Sandman (Johnlock)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt