Sherlock kam verändert nach Hause. Die grün-blauen Augen leerer, die Haltung verkrampfter, die Bewegungen unsicherer. Zuerst dachte John, es liege an dem Brief. Doch der Umschlag war geschlossen. Es stand kein Absender auf dem blütenweißen Papier und die schlanken Finger verdeckten die Hälfte der Adresse. Die wenigen Buchstaben, die er erkennen konnte, waren in geschwungener, femininer Handschrift und mit schwarzer Tinte geschrieben. Ein unbestimmtes Gefühl machte sich in ihm breit. Es war schwer und hohl zugleich. Fläzte sich auf Trauer, Schuld und Angst.
„Von wem...?", begann er, ohne dass seinen Worten Beachtung geschenkt wurde.
„Sherlock"
Der Name hallte durch die lebensleeren Räume, wirbelte den wenigen Staub der vergangenen Wochen auf. Er hatte nicht so laut sein wollen. Doch es war, als würden sich Scharfschützen unter seiner Schädeldecke tummeln – zu jeder Zeit bereit die lauernden Gefühle an die Oberfläche zu bringen. John konnte sie nicht immer in Schach halten. Manchmal feuerten sie ab und dann war es als wären seine Taten die eines anderen, als würde seine Stimme nicht mehr ihm gehören. Sein Körper stellte sein Gehirn auf Stand-by und ließ sich für kurze Zeit von seinem Herzen dirigieren.
Er wandte sich wieder seinem Blog zu. Seine Gedanken allerdings konnten nicht von der zugeschlagenen Tür ablassen. Die Frage, ob er hineingehen und mit Sherlock reden sollte, stand viel zu deutlich im Raum. Serifenlose Schrift und mattes Grün verschwammen vor seinen Augen zu einem Schleier, durch den er das Blinken des Cursors nur noch erahnen konnte. Nach einer gefühlt endlosen Zeit in Stille, erschien ihm aber auch das viel zu aufdringlich. Mit hastigen Bewegungen fuhr er den Laptop herunter und klappte ihn zu, bevor er seine Ellenbogen auf ihn stützte und den Kopf in beiden Händen vergrub. Am liebsten würde er seinen Kopf gegen die nächstbeste Wand donnern. Vielleicht wäre er danach ja leerer.
Viel zu lange verschwendete er seine Gedanken daran zu Sherlock zu gehen, ihn zu fragen, was passiert war, von wem der Brief war. Doch eigentlich war ihm seit des wortkargen Auftretens des Detektivs klar, dass er sich nicht trauen würde. Er malte sich nur abertausend Szenarien bis zum letzten Detail aus. Doch wie Kartenhäuser, fielen sie am Ende alle in sich zusammen.
Also griff er sich die gestrige Zeitung und ließ sich in das vor Alter knarzende Polster seines Sessels fallen. Nahm sein tranceartiges Lesen wieder auf, während er sich in das vertraute Netz der Gedanken begab. Manchmal wollte er es immer noch nicht wahrhaben. Doch Sherrinford hatte sie verändert. Es hatte alles verändert. Dieser Hauch von Ironie, der zwischen ihnen in der Luft gelegen hatte, war verschwunden. Er konnte sich nicht einmal erinnern Sherlock in den letzten Wochen richtig angeschrien zu haben. Wie auch. Selbst der Detektiv hatte seinen Egoismus durch eine noch größere Portion Abwesenheit ersetzt. Er vermisste ihn. Vermisste Sherlock, wie er war, bevor er seine Schwester traf. Wie sie waren. Und konnte nicht leugnen, dass er sich hier oft einsamer fühlte, als noch in dem Haus, was nach Marys Tod viel zu groß für ihn gewesen war. Es war diese aufwühlende Art von Einsamkeit, die einen nach Wärme lechzen und in Selbstmitleid versinken lässt.
„Schließt ihr eigentlich nie ab?"
Er hatte Lestrade nicht kommen hören und wollte ihn eigentlich auch gerade gar nicht hier haben. Sicherlich war es der schon vorangekündigte nächste Mord. Ungewöhnlich schnell eigentlich. Wieso kümmerte sie dieser Fall überhaupt? Auf ihn machte es nicht den Eindruck, als könnte die Polizei ihn nicht alleine lösen. Und vor allem kam es ihm nicht so vor, als wäre es etwas, das Sherlock wahrhaftig interessierte. Es fehlte das Unmögliche, nach dem er sonst immer so hinterher gewesen war.
„Sollten wir das etwa? Und ich dachte immer einen mürrischen Spürhund als Mitbewohner zu haben wäre Schutz genug."
Aus dem Augenwinkel nahm er auch schon die Gestalt seines Freundes wahr.
„Es handelt sich noch um eine Jane Doe, doch unsere Leute sind dabei rauszufinden, wer sie ist.", erläutert Greg wenig später, während Sherlock wie ein Kleinkind dasitzt und ihm lauscht.
„Der Tatort?"
„Parkhaus. Nur zwei Straßen vom Barts entfernt. Leider nicht gut überwacht und durch eine defekte Überwachungskamera ein noch größerer toter Winkel. Und genauso perfekt arrangiert wie der davor."
„Lassen Sie mich raten. Die Kamera war schon seit mehreren Wochen funktionsuntüchtig?"
Lestrade seufzte. „Ja, die letzte Aufzeichnung ist ein Abend von vor über drei Wochen. Doch darauf ist nichts Auffälliges zu sehen und mehr gibt es nicht. Das Band wurde immer wieder überspielt."
„Aber wenn es keinen Unterschied zum ersten Opfer gab. Warum kommen Sie dann zu uns?"
Es war albern, sich nach zwei Morden daran zu stören. Doch John fühlte sich nur noch wie ein unbeteiligter Zuschauer. Nicht nur, dass er seit geraumer Zeit kein Wort gesagt hatte. Sherlock schien weiter weg zu sein als sonst. Wenn er es gewollt und den Mut dazu hätte aufbringen können, hätte er sich vorbeugen und ihn berühren können. Aber er hätte dabei auch durch ein emotionales Vakuum gegriffen, gefüllt mit Geheimnissen und ausweichenden Blicken.
„Das hier lag in ihrer Hand."
Er zog eine kleine Tüte aus der Innenseite seines Mantels. Sie barg eine Blume. Ihre Dornen hatten sich von Innen in dem Plastik festgebissen. Ihre Blütenblätter waren von einem so dunklen Rot, dass sie durch die Folie schwarz schimmerten.
„Das ist eine Rose.", stellte er etwas verblüfft fest und hasste sich sogleich selbst für diese Feststellung. Sherlock bedachte ihn ohnehin keines Blickes, beugte sich bloß zu dem Inspektor vor und fischte das Beweisstück aus dessen Hand.
„Schwarze Rosen können durch die Bedeutung von Tod, Trauer oder Hass einer Drohung gleichkommen. Gleichzeitig können sie aber auch für Lust auf Neues stehen. Wobei diese hier natürlich eigentlich nur tiefrot ist, was, wie wir alle wissen, ein Zeichen für Liebe, Leidenschaft und Begierde ist. Im Allgemeinen stehen Rosen aber auch für Zeit, Leben und Schönheit.", ratterte er runter, als wären es bloß Zeilen aus einem Drehbuch, von dem jeder nur seinen Teil und die geheime Regel weiß, nicht die Anderen nach ihrem zu fragen.
„Die Dornen wurden weniger poetisch genommen. Sie symbolisieren Blut, das für andere vergossen wird und Schmerz, den man für jemand anderen erträgt. Klingt nicht nach dem, was ich von ihm erwartet hätte. Eher wie..."
Johns Herz wurde zu Stein, bevor es anfangen konnte zu rasen. Von einer Sekunde auf die andere spürte er den Schweißfilm auf seinen Handflächen. Doch Sherlock stoppte in seinen Bewegungen, genauso abrupt wie in seinen Worten. Lestrade setzte zu einer Frage an, doch der Detektiv winkte ab.
„Nichts. Ich hab' nur...laut überlegt. Falsch überlegt. Das kommt vor."
„Klingt nicht gerade emotionslos. Wenn er wirklich sammelt und keine Verbindung zu seinen Opfern hat. Warum dann die Blume?"
Während der Inspektor das fragte, musste sich John zusammenreißen, nicht aus dem Apartment runter auf die von Regen und Sturm heimgesuchten Straßen zu fliehen. Doch er riss sich zusammen und nippte nur an seiner Teetasse. Blendete das Gespräch aus, wie eine langweilige Unterrichtsstunde. Saß bloß da, während seine Gedanken ihn anbrüllten.
„Was denken Sie, John?"
Greg verschwamm als ein unbedeutender Teil der Einrichtung in den Hintergrund, als Sherlocks Blick den seinen traf. Wie so oft konnte er den Ausdruck in den Farbstrudeln nicht deuten. Welche Gedanken dem Detektiv offen lagen und welche Gedanken John für sich behalten konnte. Für ihn trieften diese Augen zu jeder Zeit von Bedeutung. Bedeutungen, die er zu viel und zu falsch interpretierte. Und nicht selten vor Traurigkeit.
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Mr. Sandman (Johnlock)
Fanfiction"Er spürte wie ein anderer Gedanke sich einen Weg zu ihm bahnte. Er hatte ihn schon viel zu oft angefangen zu denken und noch viel öfter verdrängt. Er blickte von der Leiche auf. Ihm gegenüber - auf der anderen Seite des Tisches - stand Eurus und sa...