Kapitel 5

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Staub stob in die schummrige Luft, vollgesogen mit dem Duft von altem Papier und frischgedruckten Wörtern, als Sherlock das in Leder gebundene Buch vom Tresen hob. Die dunkelbraune Oberfläche war abgegriffen, sodass der Titel nicht mehr zu lesen war, doch er wusste ohnehin, welche Geschichte er in Händen hielt.

„Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde", flüsterte er zu sich selbst. Eine Widmung war in geschwungenen Buchstaben auf die erste Seite geschrieben worden. Jedoch war die Sprache genauso alt wie das verblasste Blau der Tinte. Er schlug den festen Einband wieder zu. Konnte die einzelnen Seiten spüren, als seine Finger über den vergilbten Buchschnitt glitten.

„Ein Erbstück?" Die Frage rief er dem Ladenbesitzer zu, der im hinteren Teil der Buchhandlung Staub von den nahezu antik aussehenden Regalen wischte. Keine Kundschaft hatte an diesem trüben Nachmittag den Weg ins Geschäft gefunden.

Der Mann schnaufte, als er bei dem Detektiv angekommen war. Sein Gesicht – Sherlock musste auf es herabblicken, da der Mann ein ganzes Stück kleiner als er war – war geziert von rosa Wangen und einer Stupsnase, die wie eine Erbse im rundlichen Gesicht lag, doch die Trauer hatte tiefe Schatten unter seine Augen gemalt. Er war alleinstehend, konnte sich mit der Buchhandlung kaum die eigene Wohnung finanzieren. Deshalb hatte sie auch sonntags auf. Das Opfer, Samuel, konnte er nicht gut bezahlt haben. Doch die letzte Nacht hatte er kaum geschlafen und die blassen Augen waren noch von vielen Tränen gerötet.

„Oh Nein. Ich habe es anfangs auch gedacht, doch als ich ihn gefragt habe, meinte er, dass er es als Kind auf einem Flohmarkt gekauft habe. Er hat sich oft alte Bücher geholt. 'Desto älter ein Buch ist, desto besser wird es auf dich aufpassen', hat er immer gesagt. 'Es trägt eine tiefe Weisheit in sich, die wir zu verstehen nicht in der Lage sind.' Und ich konnte ihm nie widersprechen. Das jedoch war sein Lieblingsbuch. Ich habe ihn in all der Zeit, in der er hier gearbeitet hat, nie ohne es gesehen. Es war wie ein Begleiter, ein Freund für ihn."

Sherlock strich über das Papier. Im Inneren des Buchdeckels hatte eine Kinderhand mit blauer Tinte Samuel geschrieben. Er hatte nie viel von der Philosophie mancher Buchliebhaber gehalten. Gegenstände entwickelten kein eigenes Bewusstsein, trugen nicht so etwas wie Magie in sich. Sie waren lediglich wie ein weißes Blatt Papier, auf dem sich nach einer Zeit Spuren ihrer Besitzer abzeichneten. Sie erzählten Geschichten, aber kaum einer vermochte sie lesen. Doch bei diesem stimmte es. Er konnte es förmlich wispern hören. Doch ein kleines Detail fehlte „Kein Lesezeichen?"

„Nein, dafür kannte er die Geschichte zu gut. Er hat die Stellen so wiedergefunden." Der schmerzhafte Ausdruck von Erfahrungen, die zu Erinnerungen werden, legte sich auf das Gesicht des Ladenbesitzers. Er hatte den Jungen gemocht. Manche Menschen würden vermutlich sagen, dass er wie ein Sohn für ihn gewesen war.

„Wissen Sie? Samuel war ein guter Mitarbeiter und ein noch besserer Mensch. Andere konnten ihn zwar schnell verunsichern, doch er hat die Geschichten so geliebt. Und manchmal war ich kurz davor zu glauben, dass sie ihn auch mochten."

Die Tränen standen dem Mann schon in den Augen und langsam wurde er Sherlock zu emotional. Samuel musste das Buch hier vergessen haben. Doch, er hatte es nicht vergessen. Zu mindestens in dieser Sache war sich Sherlock sicher. Er hatte es zu sehr geliebt, um es zu vergessen.

Emotionaler Kontext, Sherlock.

Er verscheuchte diese Worte aus seinem Kopf. Ignorierte sie weiterhin wie einen Virus, der seine Gedanken mit jeder verstrichenen Sekunde etwas mehr befiel. Beschloss, dass es ihm nichts bringen würde, weiterhin in dieser eingestaubten Buchhandlung zu stehen. Kurz teilte er dem kleinen Mann mit, dass er das Buch mitnehmen müsse, was dieser nur mit einem teils müdem, doch vor allem traurigen Lächeln quittierte. Sherlock wusste nicht ganz, warum er das tat. Das Buch würde ihm nichts mehr verraten.

Als er aus dem Laden an die frische Luft trat, war es unheimlich kühl und am Horizont zeichneten sich blassrosa Farbklekse im grauen Meer des Himmels ab. Er wollte schon ein Taxi an den Straßenrand winken, doch dann überlegte er es sich anders. Zwar würde er so weit mehr als eine halbe Stunde nach Hause brauchen und hatte angesichts des Toten, der gestern auf dem Hallenboden gefunden worden war, eigentlich keine Zeit zu verlieren. Doch im Moment gab es nur eine Sache, die nicht mehr von ihm ablassen wollte. Und die würde er auf dem Weg erledigen.

Er war erst ein paar Schritte gegangen, als der typische Nieselregen wieder über die Stadt herfiel. Sherlock stellte seinen Kragen auf und sein Blick glitt wie beiläufig über die anderen Passanten, die nun noch gehetzter als ohnehin ihre Wege zogen. Er sah die frisch getrennte Frau, den Mann, der seinen Job verloren hatte und den Jugendlichen, der sich nicht nach Hause traute, da ihn dort Schläge erwarteten.

Die Welt war getränkt in Traurigkeit. Er konnte jede einzelne Träne von ihr sehen. Es kam nicht oft vor, doch manchmal wünschte er sich zwischen die merkwürdigen Grabsteine zurück. Zurück in eine Welt, wo er der Dumme war. Er war gerne intelligent. Er mochte das Lösen der Fälle, die ausschweifenden Deduktionen und noch viel mehr den Adrenalinkitzel, den er dabei spürte. Doch zuweilen war es auch ermüdend. Es machte einsam. Er hatte John. Doch was nützen einem Freunde, wenn man Angst haben muss, sie zu verlieren?

Vielleicht hatte er sich deshalb so lange nicht getraut. Doch jetzt würde er es tun. Energisch riss er die Tür der nächsten Telefonzelle auf. Es war eine dieser Roten, vor denen sich Touris fotografieren lassen und die auf Postkarten abgebildet werden. In schwarzer, etwas schmieriger Farbe war „I still search for you in crowds, in empty fields and soaring clouds." an die eine Seite gesprüht worden. Sherlock konnte die Schrift von Innen an den Fenstern sehen. Normalerweise ging er in keine poetischen Telefonzellen. Und in dieser klebte, obwohl sie sauber zu sein schien, der Geruch nach Erbrochenen und viel zu süßem Parfüme. Doch er konnte nicht wissen, wann er sich das nächste Mal zu diesem Anruf überwinden würde.

Seine Finger bebten, als er das Geld einwarf und nach dem Hörer griff. Als er mit ihnen über die abgenutzten Tasten glitt und zwischendurch immer wieder abrupt stoppte und eine der Ziffern niederdrückte. Er wusste nicht, wie lange er da stand, auf das Telefon blickte und den immer stärker werdenden Regen gegen die vor Schmutz starrenden Scheiben prasseln hörte. Dieses stetige, fordernde Trommeln. Er hielt es kaum noch aus, als er sich endlich überwand und den Hörer an sein Ohr hob. Seine Hand war bereits schwitzig und klebte an dem Plastik.

„Stellen sie mich bitte zum Direktor durch. Hier spricht Sherlock Holmes."

Kurze Stille. Dann ein leises Klacken. Er hatte den Mann am anderen Ende der Leitung kaum anfangen lassen zu reden und das Wort „Direktor" haftete immer noch an dem Mann, dem er vor etwa zwei Monaten beim Sterben zugesehen hatte. Sherlock fühlte schwere Verantwortung auf sich lasten, als die neue Stimme ihn daran erinnerte.

„Warum rufen Sie an?" Das Rauschen der Leitung schaffte es nicht, die Müdigkeit des Mannes zu übertönen.

„Ich muss mit meiner Schwester sprechen. Ohne Überwachung."

Mr. Sandman (Johnlock)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt