Kapitel 4

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John war bereits um halb sechs aufgewacht. Die Klänge von Sherlocks Violine waren durch das schlummernde Reihenhaus gehallt wie der Gesang eines Vogels, der der Nacht hinterhertrauert und gleichzeitig den Tag begrüßt. Er hätte runtergehen und sich beschweren können, doch er hatte die Melodie erkannt und sie ihm nicht untersagen wollen. Jetzt lag er wach. Sein Verstand lief bereits auf Hochtouren. Nur sein Körper hüllte sich noch in die träge Müdigkeit.

Er knipste die Nachtischlampe an und kniff reflexartig seine Augen zu, als ihn das kalte Licht blendete. Ein paar Sekunden verharrte und überlegte er, bevor er sich dazu durchringen konnte, das schwarze Notizbuch zu greifen, das unter einem Krimi auf seinem Nachttisch lag. Es war schlank und ein Gummiband hielt es verschlossen. Nicht dass das nötig gewesen wäre. Immerhin war es leer. Die einzigen Gebrauchsspuren waren die Überreste von zwei herausgerissenen Seiten. John strich über die Narben zwischen dem Papier und griff schließlich zu einem schwarzen Gelschreiber.

Liebes Tagebuch, begann er und bereute seine gewählten Worte sofort. Er kritzelte sie sorgsam durch und begann noch einmal, indem er das Datum unter die schwarze Wolke schrieb.

Es macht mich verrückt, dass ich es nicht bemerken würde, wenn er es wüsste. Dass ich nie wissen werde, ob der Sarg damals wirklich für sie war oder, ob ich an ihren Tränen an diesem Tag Schuld trage.

Er betrachtete die zwei Sätze argwöhnisch. Seine Schrift passte nicht zu seinen Worten. Über die Jahre hatte sie immer mehr von ihrer Strenge verloren. War immer abgenutzter geworden. Sie war zu einer Schrift für das Ausstellen von Rezepten und das Schreiben von nicht allzu langen Einkaufslisten geworden. Doch Gefühle fanden zwischen den unproportionierten Bögen und Strichen keinen Platz mehr.

Er trennte die Seite aus dem Buch, las das Geschriebene noch einmal und zerriss sie. Eine weitere Narbe im Weiß des Papiers. Einige der Fetzen glitten ihm durch die Finger und segelten auf den dunklen Holzfußboden. Wie Scherben blieben sie dort liegen. Nur bezweifelte John, dass sie ihm Glück bringen würden. Er setzte sich auf die Bettkante und schob mit den Füßen die Schnipsel gedankenversunken unters Bett.

Nach einigen Sekunden ließ er sich zurück in die Lacken fallen, schloss die Augen und lauschte der Musik. Auch wenn er kaum daran denken mochte, nie wieder mit ihr tanzen, sie nie wieder küssen zu können, machte ihn die Erinnerung an diesen gemeinsamen Tag glücklich. Die Erinnerung an Mary.

Er hatte ein Bild von ihr neben seinem Bett aufgehangen. Sie trug darauf das Kleid, das sie auch angehabt hatte, als Sherlock zurückgekehrt war; an jenem Abend, der mit einem halben Heiratsantrag begonnen und erst nach vielen Schlägen sein Ende gefunden hatte. John hatte vorher noch nie so viele Lokale an nur einem Abend besucht und war vor allem noch nie aus so vielen Lokalen innerhalb eines Abends rausgeworfen worden. Im hölzernen Rahmen hatte der Wind einige Strähnen aus ihren hochgesteckten Haaren gerissen und versucht sie sich zu eigen zu machen. Sie lachte und die klugen Augen leuchteten in der nächtlichen Dunkelheit. John hatte es mit Sorgfalt gewählt. Dennoch war es nie perfekt. Es war unmögliche diesen Menschen auf ein einziges Stück Hochglanzpapier zu quetschen.

Er hatte oft darüber nachgedacht es abzunehmen. John konnte das schlechte Gewissen nicht verleugnen, wenn er morgens in die Augen seiner toten Frau blickte und die ganze vergangene Nacht über ihn nachgedacht hatte. Doch er liebte sie noch immer. Er würde nie damit aufhören. Nie von ihr ablassen. Doch an den Schuldgefühlen änderte auch sein Wissen nichts. Sein Wissen, dass sie ihn nicht für seine Gedanken verurteilt hätte. Sie war viel zu gut dafür. Viel besser als er.

Er richtete sich auf. Schob das Notizbuch, dem nun eine weitere Seite fehlte, zurück unter den Krimi und legte den Stift wieder an seinen Platz. Dann stellte er sich auf seine noch müden Beine und suchte sich Kleidung heraus. Doch kurz nachdem er sie auf seinem Bett zurechtgelegt hatte, räumte er sie wieder in den Schrank und holte stattdessen seinen grauen Pullover und eine etwas bequemere Hose hervor. Es war Sonntag. Gott, er hätte ausschlafen sollen. Mit einem Mal fühlte er sich wie gerädert. Doch er wollte sich nicht wieder hinlegen und taperte stattdessen die Treppe hinunter. Die Tür quietschte leise, als er sie aufschob und auf Zehenspitzen in den Raum trat. Sherlock stand in seiner bleichen Gestalt am Fenster. Es hatte den Anschein, als würde er den Bogen in Trance über die Saiten des Instrumentes führen. Johns Anwesenheit ignorierte er so gekonnt wie immer.

Während das nahezu brühend heiße Wasser über seine Haut lief und er versuchte all die Gedanken und Gefühle der letzten Nacht, der letzten Zeit, von sich abzuwaschen, lauschte er dem Geigenspiel seines Mitbewohners und neue Schuldgefühle legten sich über die alten. Er sollte bei der Melodie an Mary denken. Und nur an sie. Er verspürte einen kurzen Stich als die Musik stoppte und stellte kurz darauf das Wasser ab. Ohne sie fühlte er sich einsam. Fröstelnd streifte er sich die Kleidung über und trat – ohne sich die Mühe zu machen und seine Haare zu föhnen – aus dem dunstgetränkten Bad.

Sherlock saß an seinem Mikroskop in der Küche und untersuchte etwas – vermutlich den Sand oder das Blut vom Tatort. Er trug seinen blauen Morgenmantel und beachtete ihn genauso wenig wie beim Eintreten. Die schwarzen Locken waren noch etwas zerzauster als sonst und die langen, bleichen Finger drehten immer wieder vorsichtig an den Rädchen seines Mikroskops. Nur als Mrs. Hudson – ein Tablett mit Tee und Keksen haltend – eintrat, zuckte der Blick des Detektives kurz hoch.

„Schon so früh auf? Sind Sie etwa auch von Sherlocks Musik wach geworden? Es ist ja wunderschön, aber eine halbe Stunde hätte ich schon noch weiterschlafen können. Zum Glück sind eure Nachbarn vor kurzem ausgezogen, ansonsten hätten sie sich sicherlich wieder beschwert.", brachte die Vermieterin in einem einzigen Redeschwall hervor. John lächelte als Antwort und nahm ihr das Tablett mit einem leisen „Danke" ab, um es neben Sherlock auf den Küchentisch zu stellen.

Dieser musterte die zierlichen Tassen und Butterkekse nur kurz, bevor er sich wieder seinem Mikroskop zuwandte. Vermutlich war er wegen des Falles wieder in seinem Arbeitsmodus und verweigerte jegliches Essen.

„Und, schon was rausgefunden?", fragte John ihn, als Mrs. Hudson ihre Wohnung wieder verlassen hatte. Sherlock schob ihm einen zerfransten Notizblock zu, dessen weißes Papier einem leicht schmierigem Kulli zum Opfer gefallen war. John mochte die geschwungene und dennoch strenge Handschrift, in der die Buchstaben, Zahlen und Zeichen niedergekritzelt worden waren. Nur das Allernötigste. John hatte Sherlock noch nie viel schreiben gesehen. Wozu auch, wenn er sich ohnehin alles merken konnte? Zwei Begriffe waren umkringelt worden:

Morphium

Atropin

Bei Überdosierung führte beides zu Atemdepression und -lähmungen. Bei ausreichender Dosis also durchaus sehr tödlich. „Das ist das, was dem Opfer gespritzt wurde?" Er nahm einen Schluck Tee. Der Earl Grey verbrannte ihm die Zunge, schmeckte aber köstlich. Sherlock nickte zuerst nur leicht abwesend, sprang dann jedoch mit einem Mal auf.

„Auch wenn das Opfer direkt zum Tatort gegangen ist, hat er sich gewehrt. Er wurde mit der linken Hand vom Mörder auf Abstand gehalten, während er mit rechts das Gift gespritzt bekommen hat." Sherlocks Augen funkelten und er ahmte die Handgriffe des Mörders mit wilden Gesten in der Luft nach. Trotz des toten Mannes, schlich sich ein Lächeln auf Johns Lippen, während er seinen Mitbewohner in seinem Enthusiasmus beobachtete.

„Also war er Linkshänder?"

„Nicht unbedingt. Er wird ziemlich viel Kraft gebraucht haben um sein Opfer zurückzuhalten."

Sherlock ließ sich ihm gegenüber wieder auf seinen Stuhl sinken und beugte sich über den Tisch, was ihm John gleichtat.

„Sie kannten sich nicht. Höchstens flüchtig. Und die Frage ist deshalb doch, warum er direkt zu der Sporthalle gelaufen ist. Ganz so, als wäre er mit seinem Mörder verabredet gewesen."

John wusste es nicht. Er konnte keinen Mordfall aufklären. Und gerade auch kein Leben retten – denn sein eigenes fühlte sich schon viel zu lange so an, als würde sich ein immer dichteres Netz aus Lügen um es spinnen. Er wusste, dass er den feuchten Atem Sherlocks auf seiner Haut spüren mochte, wenn sie sich so nah wie in diesem Moment waren. Wusste, dass sein Blick oft zu lang an den feinen Konturen seines Gesichtes festhielt und dass sein Puls sich in seiner Gegenwart erhöhte. Verdammt, vielleicht weiteten sich sogar seine Pupillen.

Aber vor allem wusste John, dass er diese Gefühle weder aus sich verbannen noch sie akzeptieren würde. Irgendwann würde der Tag kommen. Sherlock würde nicht für immer den Unwissenden spielen. Doch er würde ihn für immer lieben.

Mr. Sandman (Johnlock)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt